Eigenverantwortung. Die bürgerlichen Klimapolitikerinnen und -politiker schwören darauf. Petra Gössi, die unglückliche FDP-Präsidentin, die ihrer Partei eine neue Klima-DNA zu schneidern versucht und dafür fast nur Spott und Häme erntet, bringt das Wort in jedem Interview, jeder Talkshow mehrmals unter. Desgleichen ihre fleissige Mitkämpferin, die Zürcher Nationalrätin Doris Fiala. Auch die SVP-Granden kommen nicht ohne den Begriff aus. Köppel & Co. benutzen ihn allerdings eher als Kampfbegriff gegen die Jugendlichen von «Fridays for Future»: Ein bisschen Schulschwänzen und dann, hopplahopp, mit dem Flugzeug ab in die Ferien; wo bleibt da die Eigenverantwortung?, ätzen sie. Über ihre eigene Verantwortlichkeit erfährt man allerdings kaum etwas.
Schlimmer noch: Bis jetzt sind die marktliberalen Gralshüter jeden Beweis schuldig geblieben, dass das Prinzip Eigenverantwortung überhaupt funktioniert oder zumindest schon irgendwann irgendwo einmal funktioniert hat. Wo immer es in den letzten Jahren in Sachen Umwelt und Klima Fortschritte gab, ging es nicht ohne Verbote, sei es beim Einbau von Katalysatoren bei Dieselfahrzeugen, beim Ersatz von FCKW-Kühlmitteln durch andere, ein bisschen weniger schädliche Ersatzstoffe, oder sei es mit dem Übereinkommen zum Schutz des Rheins vom 12. April 1999 nach der Brandkatastrophe von Schweizerhalle 1986. Beim Verbot von Asbest, beim Streit um Stickoxid-Grenzwerte nach Fahrverboten in zahlreichen deutschen Städten ebenso wie bei der Diskussion um den Grenzwert von CO2-Emissionen bei Pkw.
Wenn die Märchenstunden vorbei sind, geht es meist ohne grosse Probleme
Immer reagieren die Betroffenen nach dem gleichen Muster: Zuerst erklären sie kategorisch, dass dies ganz und gar unmöglich sei, zumindest in so kurzer Zeit, dann versuchen sie, die neuen Regelungen nach ihrem Gusto mit Ausnahmebestimmung und anderen Tricks aufzuweichen oder, wenn dies nicht funktioniert, die Verbote mit anderen «kreativen», nicht selten illegalen Mitteln zu umgehen . Wenn alle Märchengeschichten und Warnungen vor drohenden Arbeitslosenheeren nicht mehr verfangen, geht es plötzlich doch, ganz problemlos, effizient, schnell und meist sogar gewinnbringend für die Wirtschaft.
Direkt damit verbunden ist eine zweite Verteidigungslinie: Nur keine Verbote, nur keine «Ökodiktatur». Oder zumindest nur als allerletztes Mittel, wenn der allerletzte Versuch missglückt ist. So Petra Gössi, die ihrer gebeutelten Partei ein allerletztes Hintertürchen offenhalten will, denn auch ihr muss mittlerweile aufgefallen sein, dass angesichts der erdrückenden Beweislage kaum noch jemand daran glaubt, dass mit der Zauberformel Eigenverantwortung die Klimakrise zu bewältigen sei.
Ebensowenig wird es der Markt richten, den die Marktliberalen als Tanzboden verstehen, auf dem die Eigenverantwortung ihre Pirouetten drehen soll. Spätestens seit der Finanzkrise vor zehn Jahren dürfte sich herumgesprochen haben, dass die Märkte entgegen aller schönen Theorie durchaus systematisch Unvernunft hervorbringen. Und dass die berühmte unsichtbare Hand des Marktes unvernünftige Menschen auch nicht zur Räson bringt, sondern deren Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Brutalität eher noch anstachelt. Dass der Markt, wie der hochgelobte Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith noch glaubte, ein «Mitarbeiter Gottes» sei, der hinter dem Rücken der Beteiligten die «Glückseligkeit der Menschen» organisiert, glauben wohl nur noch jene wenigen Hardcore-Neoliberalen, die jahrein jahraus hinter geschlossenen Vorhängen leben, damit sie die Wirklichkeit der realen Welt draussen nicht zur Kenntnis nehmen müssen.
Es braucht Verbote und Beschränkungen
Immerhin hat die NZZ am Mittwoch (19. Juni) einen klugen Gastkommentar von Regula Kyburz-Graber veröffentlicht, der ehemaligen Professorin für Gymnasialpädagogik an der Universität Zürich. Sie erklärt, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass» individuelles und gesellschaftliches Handeln wesentlich von den gegebenen Rahmenbedingungen abhängen und längst nicht allein vom individuellen Wissen und Wollen». Dass der graue Alltag eben anders funktioniert als in der blumigen Theorie: Meist muss es schnell gehen, praktisch, effizient, möglichst zeitsparend, bequem und günstig sein. Wer da nicht mitmacht, ist vielleicht der Gute, aber meist doch eher der Dumme.
Die Forschung, so Kyburz-Graber, habe gezeigt, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen entscheidend sind, wenn man substanzielle Verbesserungen zugunsten der Umwelt erzielen wolle: «Moralische Appelle zeitigen zwar Wirkung, aber längst nicht für alle Menschen und nicht über längere Zeit.»
Die Zeit, so Regula Kyburz-Graber, sei reif, die Appelle für umweltbewusstes individuelles Verhalten sichtbar und deutlich durch politische Schritte zu ergänzen: «Mit Anreizen, Internalisierung von Kosten (Kostenwahrheit) und wo nötig auch mit Verboten beziehungsweise Beschränkungen.»
Natürlich ist dieser Denkansatz weder neu noch revolutionär. Aber er umschifft eine völlig unfruchtbare und unnötige Diskussion. Es ist nach Kyburz-Graber dann nämlich völlig egal, ob der Einzelne, die Einzelne eigenverantwortlich denkt und handelt oder nicht. Die meisten Verbote und Beschränkungen im Klimabereich privilegieren oder diskriminieren niemanden; sie gelten wie Geschwindigkeitsbeschränkungen oder das Verbot, seinen Nachbarn zu verprügeln, für alle, ob reich oder arm, ob SUV-oder E-Mobil-Fahrer. Massstab für klimagerechtes Verhalten ist dann nicht mehr die Lust und Laune, die sogenannte Freiheit jedes Einzelnen, sondern der Wille der Politik, das umzusetzen, was die Wissenschaft mit stichhaltigeren Argumenten als das Menschenrecht auf Egoismus, für notwendig erachtet. (Individuelles eigenverantwortliches Handeln bleibt aber nicht verboten.)
Dass dabei Ungerechtigkeiten entstehen, ist unbestreitbar. Darüber kann und muss man reden, etwa wenn es um eine CO2-Steuer geht, die Pendler oder die Bevölkerung schlecht erschlossener Regionen benachteiligt. Um solche Ungerechtigkeiten zu lindern, wird man mit Sicherheit machbare Lösungen finden, sofern man sie wirklich will. Ganz und gar scheinheilig aber ist diese Diskussion, wenn dieselben Politiker, die in diesem Fall Zeter und Mordio schreien und einen roten Umverteilungsteufel an die Wand malen, nicht den geringsten Handlungsbedarf erkennen können, wenn es darum geht, die Ungerechtigkeiten bei der Lohngleichheit von Mann und Frau oder auf dem Wohnungsmarkt anzupacken. Oder wenn Unternehmen Hunderte oder Tausende von Mitarbeitern entlassen, damit die Aktionäre nicht so schrecklich darben müssen. (CR)