Im Windschatten der neuen Klimaschutz-Bewegung und den Fridays for Future-Streiks werden die alten Seilschaften der Atom-Lobby wieder aktiv. Vehement machen sie in den Medien Stimmung für den «sauberen Energieträger» Atomkraft und plädieren für den Bau neuer Atomkraftwerke. Die Schweizerische Energiestiftung hält dagegen.
In der NZZ trommeln die neoliberalen Ökonomen Silvio Borner, Reiner Eichenberger, Bernd Schips und Hans Rentsch mit Gastbeiträgen regelmässig für neue AKW, im Tages-Anzeiger macht sich der Bundeshauskorrespondent Michael Aebi lustig über eine Energiestrategie ohne Atomkraft. Ebenfalls im Tages-Anzeiger darf der amerikanische Psychologe Steven Pinker, «einer der wichtigsten Denker der Welt», wie die Redaktion meint, an die Atomkraft glauben. In der NZZ am Sonntag bespricht der Wissenschaftsredaktor Andreas Hirstein sehr wohlwollend ein neues Buch des amerikanischen Politologen Joshua Goldstein und des schwedischen Ingenieurs Stefan Qvist, dessen Kernthese heisst: Der Klimawandel lässt sich nur noch durch einen schnellen, weltweiten und sofort beginnenden Ausbau der Kernenergie stoppen.
Das Tamedia Magazin wiederum lässt den 81jährigen ehemaligen Direktor des Bundesamtes für Energie Eduard Kiener im Ton eines über Allem stehenden Energie-Weisen seitenlang seine etwas spezielle Sicht der Dinge referieren, die darin besteht, alle möglichen und behaupteten Nachteile der Erneuerbaren Energien gegen alle möglichen und eingebildeten Vorteile der Atomenergie aufzurechnen. Kiener kommt, nicht ganz überraschend, zum Fazit: «Wer es mit dem Klimaschutz ernst meint, der muss den Ausstieg aus dem Kernenergieausstieg fordern.»
In der Sonntagszeitung wiederum fordert FDP-Nationalrat und Gewerbedirektor Hans-Ulrich Bigler, als Präsident des Nuklearforums auch bekennender Lobbyist der Atomkraftfreunde, man müsse «jetzt die ideologischen Scheuklappen» fallen lassen; die zur Erreichung der Klimaziele nötige CO2-Reduktion sei nur mit Atomenergie zu schaffen. Ähnlich argumentieren unter anderem auch auch die FDP- und SVP-Nationalräte Christian Wasserfallen, Peter Schilliger, Christian Imark, Roger Köppel, Albert Rösti, Thomas Aeschi und andere mehr.
Immer stösst man wieder auf dieselben Namen
Viele dieser Namen trifft man in immer wieder anderen Zusammensetzungen in den zahlreichen Lobbygruppen der Energiewirtschaft. Im prominentesten Atomlobby-Verband «Aktion für vernünftige Energiepolitik Schweiz» (Aves)», der sich im November vorigen Jahres allerdings lautlos aufgelöst hat, sassen zu seinen besten Zeiten 62 National- und Ständeräte (SVP: 36; FDP: 17; CVP: 8; BDP: 1), von Thomas Aeschi und Doris Fiala über Petra Gössi und Ruth Humbel bis Gerhard Pfister, Peter Schilliger und Christian Wasserfallen.
Nicht unmittelbar als Nachfolgerin, aber doch mit Verbindungen zur ehemaligen AVES fungiert gemäss den Recherchen des Online-Portals Infosperber seit Dezember 2018 der «Energie Club Schweiz», der wiederum personell mit weiteren Atomlobby-Gruppen vernetzt ist, so mit «Energy Of Humanity» des Milliardärs Daniel Begehrter oder den «Frauen für Energie» (FFE) seiner Mutter Irene Aegerter Zu diesem Umfeld gehören auch die Klimaleugner und -skeptiker vom Carnot-Cournot-Netzwerk (CCN) von Silvio Borner, Bernd Schips. Eduard Kiener und Hans Rentsch. Und die Arbeitsgruppe «Christen + Energie» (ACE) des reformierten Wettinger Pfarrers Stefan Burkhard, deren Vizepräsident Lukas Weber die Internetseite «Alliance Energie» betreibt und Projektleiter des «Liberalen Instituts»ist, in dessen Beirat wiederum Silvio Berner sitzt.
Dass die grossen Schweizer Tageszeitungen den Atom-Lobbyisten so viel Platz einräumen, jedenfalls mehr als der Solar- und Windlobby, ist erstaunlich, denn die Planung oder gar der Bau von Atomkraftwerken in der Schweiz ist derzeit etwa so aktuell wie die Frage, ob die Postauto AG wieder Postkutschen einführen soll. Interessanter allerdings ist, dass sich auch die durchaus kompetenten Umwelt- und Energiespezialisten des Tages-Anzeigers und der NZZ diesem Trend offenbar nicht so richtig entziehen können und fast zur gleichen Zeit die Frage aufwerfen, ob es nicht vielleicht doch neue Atomkraftwerke brauche, um die Energiewende zu schaffen.
Auch die Internationale Energie Agentur plädiert für Atomkraft
«Atomausstiege gefährden die Klimaziele» betitelt etwa der TA-Wissenschaftsredaktor Martin Läubli seinen Bericht über eine Studie der Internationalen Energie Agentur (IEA), aber natürlich ist Läubli, wie es sich für einen Tages-Anzeiger-Redaktor gehört, so ausgewogen, dass er die Behauptung im Untertitel auch gleich wieder etwas relativiert: «Es könnte aber auch ohne Atomstrom gehen».
» Die IEA ist besorgt über die zunehmenden Pläne in den Industrieländern, aus der Atomkraft auszusteigen», zitiert Läubli Fatah Birol, den Direktor der IEA. Die Besorgnis der IEA beruht allerdings auf letztlich erstaunlich einfachen «Milchbüechli-Rechnungen»: In den nächsten fünf Jahren wird die nukleare Stromproduktion in den Industrieländern um ein Viertel zurückgehen. Zugleich werde es immer schwieriger, Investoren für den Bau neuer AKW zu motivieren, weil die Risiken immer grösser geworden seien, da die Kosten etwa für Fotovoltaik in den letzten sechs Jahren um 65 Prozent gesunken sind und in den nächsten zwanzig Jahren um weitere 50 Prozent sinken würden.
Um den geplanten Atomausstieg auszugleichen, brauche es weltweit in den nächsten 20 Jahren fünfmal so viel an erneuerbarer Energie, wie in den letzten 20 Jahren zugebaut wurde. Aber statt deshalb für eine massive Förderung der Erneuerbaren zu plädieren, fordert die IEA politische Massnahmen, damit die Atomenergie wieder auf dem Markt konkurrenzfähig werde. Sonst seien die Klimaziele des Pariser Abkommens schwierig zu erreichen.
Dass die IEA keine UN Organisation ist, sondern ein Interessen- und Kooperationsverband der 30 wichtigsten Industrieländer, der generell auf der Seite der Atom- und Erdöl-Industrie steht und immer wieder durch krasse Fehlprognosen über die Möglichkeiten und die Entwicklung von Wind- und Solarstrom aufgefallen ist, wissen vermutlich die wenigstens Leserinnen und Leser des Tages-Anzeigers.
Ein «Weckruf» in der NZZ hält eine Option AKW offen
Auch Helmut Stalder, ein meist nüchterner, unaufgeregter Verfechter der Energiewende in der Schweiz, schreibt in der NZZ vom 22. Mai einen «Weckruf» und warnt schon im Untertitel, die Schweiz wiege sich in falscher Sicherheit und setze ihre Versorgungssicherheit aufs Spiel.
Risikoanalysen des Bundes hätten als grösste Gefährdung der Schweiz eine mögliche lange, schwere «Strommangellage» ausgemacht, eine Unterversorgung von 30 Prozent im Winter – «und zwar nicht wegen technischer Defekte, sondern einfach, weil nicht genug Strom produziert, importiert und bereitgestellt werden» könne. Gemäss diesem Szenario käme es im Winter drei Monate lang mehrfach zu grossflächigen Abschaltungen, Stromrationierungen und vereinzelten lokalen Blackouts. Die Folgen: immense Vermögensverluste und wirtschaftliche Einbussen (…). Der Schaden würde mehr als 100 Milliarden Franken betragen. Dies bei einer Wahrscheinlichkeit von einmal in 30 bis 100 Jahren
Zwar sei gemäss dem wahrscheinlichste Szenario – Courant normal ohne das AKW Mühleberg – die Versorgungssicherheit bis 2025 gewährleistet. Für Stresssituationen müssten jedoch, so zitiert Stalder das Bundesamt für Bevölkerungsschutz, Vorkehrungen getroffen werden. Schon die Feststellung, so Stalder, dass die Sicherheit nur unter Normalbedingungen für die nächsten sechs Jahre gesichert sei, sei nicht eben beruhigend. Vollends düster aber werde das Bild in einer längerfristigen Perspektive: «Bis in zwanzig Jahren fallen mit dem altersbedingten Auslaufen der Schweizer AKW gegen 40 Prozent der Produktionskapazität im Inland weg – rund 25 Terawattstunden (TWh) Bandenergie. Gemäss der Energiestrategie soll diese Lücke durch den Zubau neuer erneuerbarer Energien gefüllt werden, die heute 3,7 TWh liefern und bis 2050 auf 24,2 TWh gesteigert werden sollen. Bei der Fotovoltaik und Biomasse werde dieses Etappenziel für 2020 erreicht. Insgesamt aber würden sich «limitierende Faktoren» abzeichnen.
Diese limitierenden Faktoren sieht Stalder allerdings weniger im Bereich der technischen Machbarkeit als vielmehr im Widerstand der Bevölkerung Die Windenergie, die vor allem im Winter Strom liefert, wird das Ziel verfehlen, weil der Widerstand steigt und die Schweiz ohnehin kein gutes Windland sei. Bei der Geothermie sei die Zielerreichung ausgeschlossen, da sie noch tief in der Entwicklung steckt. Und überhaupt: «Ausgebaut wird nur, wo Subventionen die Kosten und Risiken mildern. Sonst lohnt es sich unter heutigen Bedingungen ökonomisch nicht, so dass die Stromkonzerne vor allem in lukrative Anlagen im Ausland investieren, die kaum etwas zur Inlandversorgung beitragen. Es ist also ungewiss, ob rein kapazitätsmässig der Ausbau der Inlandproduktion mit dem Auslaufen der AKW Schritt halten kann.»
Weil die Speicherkapazität aber trotz Pumpspeicherkraftwerken, Batterien etc.nicht ausreichen, um den Stromüberschuss im Sommer in den Winter hinüberzuretten, werde die Schweiz zunehmendem auf Importe angewiesen sein. Aber auch hier verdüstere sich das Bild zusehends, schreibt Stalder, weil ringsum Länder wie Deutschland und Frankreich ihre AKW vom Netz nehmen, aus der Kohle aussteigen und die Leitungen fehlen, den Windstrom aus dem Norden Deutschlands in den Süden zu bringen. Die Nachbarn, so Stalder, steuern selbst darauf zu, im Winter zu Importeuren zu werden. Es ist also hochriskant, wenn die Schweiz ihre Versorgungssicherheit noch mehr von ihnen abhängig macht. Zu Ende gedacht, bedeutet diese Argumentation: Weil die Nachbarstaaten AKW abschalten, muss die Schweiz neue AKW aufbauen.
Dazu komme, dass derzeit völlig unklar sei, ob und wie die Schweiz sich in den europäischen Strommarkt integrieren könne. Ohne Rahmenabkommen mit der EU gibt es eben auch kein Stromabkommen mit der EU.
Nach Abwägung weiterer nur unsicherer Möglichkeiten kommt Stalder zum Schluss: «Die Schweiz muss sich ernsthaft überlegen, wie sie Produktionskapazität für den Winter hinbekommt. Ein AKW der neusten Generation, das den Strom sicher und weiterhin CO2-frei liefern würde, könnte eine Option sein, müsste aber wirtschaftlich und politisch hohe Hürden überwinden. Technisch wären als Rückversicherung Gaskombikraftwerke mit CO2-Abscheidung naheliegend, die relativ rasch gebaut und schnell zugeschaltet werden können. Aber auch sie stossen auf Widerstand und sind nicht billig.»
Etwas überraschend landet also Stalders «Weckruf» bei der Option Atomkraft und – als Rückversicherung – bei Gaskombikraftwerken. Weil letztere zwar weniger, aber immer noch viel zu viel Treibhausgasemissionen, vorwiegend Methan, produzieren, können Gaskombikraftwerke bei Laufzeiten von rund 40 Jahren also mit Sicherheit nicht die Lösung sein.
Bis ein AKW ans Netz gehen könnte, dauert es mindestens 21 Jahre
Helmut Stalder plädiert wie Martin Läubli nicht explizit für den Bau neuer Atomkraftwerke, aber er verbarrikadiert praktisch alle anderen Alternativen, dass zuletzt fast nur noch die Option Atomkraftwerk übrig bleibt. Dass diese Option allerdings gar keine realistische Option ist, zeigt jene Studie der Schweizerischen Energiestiftung SES, über die KlimaNews bereits am 1. Juni berichtet hat. Um in der Schweiz ein neues AKW zu bauen, müsste zuerst das Neubauverbot aufgehoben werden, was inklusive Referendum schon vier Jahre dauern würde. Mit der Erteilung der Rahmenbewilligung (inklusive Referendum weitere 5,5 Jahre), der Bau- und schliesslich die Betriebsbewilligung (je 1 Jahr) und schliesslich der effektiven Bauzeit (erfahrungsgemäss weitere 8 bis 10 Jahren) ginge es insgesamt also mindestens 21 Jahre, bis das nächste Schweizer AKW ans Netz gehen könnte. Wenn die Schweiz aber ihre Klimaziele erreichen will, muss sie in den nächsten zehn Jahren ihre Treibhausgasemissionen drastisch reduzieren. Das heisst: Sie muss diese Reduktion so oder so über die erneuerbaren Energieträger realisieren
Überdies rechnet die SES-Studie mit Kosten von mindestens 11 Milliarden Franken; diese Zahlen orientieren sich an Reaktoren, die derzeit im Bau oder geplant sind. Man kann annehmen, dass 11 Milliarden, in die Subventionierung und Förderung von Wind- und Solarenergie wie auch in die entsprechende Forschung gesteckt, um einiges sinn- und wirkungsvoller investiert wären, als sie in eine fragwürdige und riskante Technologie zu stecken. (Über diese Studie hat Helmut Stalder jetzt selber auch in der NZZ vom 23. Juni berichtet.) (CR)