Die Tamedia-Blätter sorgen sich wieder einmal um die Klimajugend. Sorge bereitet eine Charta, welche die Klimaaktivisten im Hinblick auf die National- und Ständeratswahlen vorbereiten. Kandidaten, die diese Charta unterschreiben, sollen von der Klimastreikbewegung zur Wahl empfohlen werden.
Die Charta soll unter anderem ein Bekenntnis zur Ausrufung des Klimanotstands, zur Klimaneutralität bis 2030 und zur Klimagerechtigkeit enthalten. Umstritten, meldet der Tages-Anzeiger, ist die vierte Forderung nach einem «Systemwandel» für den Fall, dass die ersten drei Forderungen «in unserem aktuellen System nicht erfüllt werden können». Damit diese Forderung recht gruselig und radikal wirkt, zitieren die Tamedia-Blätter Diskussionsbeiträge aus den internen Chats, die allerdings nichts weiter sind als – eben Diskussionsbeiträge. So etwa Forderungen nach der «Verstaatlichung von Konzernen, der Abschaffung des Flugverkehrs, nach Sozialismus und Kommunismus». Aber wie erwähnt: Diese Forderungen stehen nicht in der Charta, sondern sind Diskussionsbeiträge einzelner Chat-Teilnehmer.
Warum soll alles Blödsinn sein, was Ruedi Noser nicht in den Kram passt?
Trotzdem verwundert es natürlich nicht, dass Ruedi Noser, Zürcher FDP-Ständeratskandidat und kurioserweise Mitinitiant der Gletscherinitiative, das alles gar nicht lustig findet und gehässig zurückbellt: «Wem es ernst ist mit dem Klimaschutz, der verzichtet auf ideologischen Blödsinn.» Noch abwarten will laut Tages-Anzeiger der CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt. Wenn Ideologie an die Stelle begründeter Sachziele trete, werde er nicht hinter der Charta stehen können, meinte er; was hingegen die sachlichen Ziele anbelange, seien diese nicht weit von seiner Grundhaltung entfernt. (Dass zwischen seiner Grundhaltung und seinem Abstimmungsverhalten eine zum Teil doch recht beträchtliche Differenz besteht, erwähnt er allerdings nicht.)
Diplomatisch, aber fast noch verschwommener, äussert sich die grüne Berner Nationalrätin Regula Rytz. Grundlegende Änderungen, murmelt sie im Tages-Anzeiger, seien tatsächlich wünschenswert. Aber: «All das kann im Rahmen des heutigen Politik- und Rechtssystems beschlossen werden.» Ein Systemwandel müsse für die Grünen immer auf der Basis von Demokratie, Rechtsstaat und unveräusserlicher Menschenrechte stehen. (Was die Menschenrechte, die Demokratie und der Rechtsstaat mit der Charta zu tun haben, wird wohl auch Regula Rytz nicht so leicht erklären können.)
Dass sich in Wahlkampfzeiten der Verstand von Politikerinnen und Politkern zuweilen etwas eintrübt, ist ein bekanntes Phänomen. Trotzdem muss man fragen dürfen, was denn eigentlich ein so furchtbarer Blödsinn sei, wenn junge Leute finden, es müsse doch erlaubt sein, über einen Systemwechsel nachzudenken, wenn das bestehende System über Jahrzehnte hinweg einfach nicht in der Lage ist, eines der wichtigsten Probleme der Welt zu lösen. Oder, um aus Müller-Altermatts christlich fundierter Sicht zu fragen: Wäre Gott ein Unternehmer, würde er wohl die Leitung seines Unternehmens Welt in die Hände bürgerlicher Politiker – oder erweitert: in die Hände der wichtigsten Regierungen der Welt – legen? Man darf es bezweifeln …
(Und – aber nur nebenbei: Dass der Neoliberalismus nicht die pure Wahrheit ist, sondern ebenfalls eine Ideologie, die ihre Berechtigung im Praxistest immer wieder beweisen müsste, gehört spätestens seit dem eklatanten Scheitern in der Finanzkrise vor zehn Jahren zum Basiswissen etwas aufgeklärterer Zeitgenossen.)
In Klimafragen hat der Spätkapitalismus bisher völlig versagt
Man braucht weder Marx und Engels gelesen haben, noch nicht einmal die beiden Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Kugman, um sich die durchaus rationale Frage zu stellen, ob der heute von den westlichen Industrieländern praktizierte und als alternativlos belobigte Spätkapitalismus wirklich eine brauchbare Wirtschaftsweise ist, um die Klimaprobleme zu lösen. In der Praxis spricht das jahrzehntelange Scheitern aller nationaler und internationaler Klimaverhandlungen, die immer grössere Zerstörung unserer natürlichen Umwelt, die immer noch wachsende Ungleichheit von Wohlstand und Lebenschancen dagegen. Und erst recht die angesichts der drohenden Katastrophe unfassbare Gleichgültigkeit, mit der die Politik und Wirtschaft zwar nicht mehr reden, aber immer noch handeln.
Aber auch in der Theorie ist Misstrauen gegenüber dem derzeitigen Wirtschaftssystem durchaus berechtigt. Warum eigentlich soll ein Wirtschaftssystem, dessen Kerngedanke die Konkurrenz, der Kampf, der Egoismus ist, in eine solidarische Zukunft führen, die es brauchen würde, weil das Klima weder ein privates noch ein nationales Problem ist? Warum soll ein Wirtschaftssystem, das zwangsläufig angewiesen ist auf Wachstum, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und immer gigantischeren Konsum, dazu führen, dass wir mit den jährlich zur Verfügung stehenden Ressourcen auskommen und diese erst noch gerecht mit den Milliarden von Menschen teilen, die das Pech hatten, in Elend- und Armutsländern geboren zu werden? Solange die Nosers und Müller-Altermatts auf diese und ähnliche Fragen der Klimaaktivisten keine überzeugende Antwort haben, sollten sie vielleicht etwas weniger grossmäulig gegenüber den kritischen jungen Leuten auftrumpfen, welche die durchaus richtigen Fragen stellen und sich nicht mehr abspeisen und bedrohen lassen mit irgendwelchen Beteuerungen, Glaubenssätzen, Bonmots und Verunglimpfungen. (CR)