Fast könnte man meinen, die Tamedia-Blätter und die NZZ seien ernstlich um die Klimaschutzbewegung besorgt und fürchten, diese könnte an ihren bösen Feinden scheitern. In Wirklichkeit ist die Besorgnis ein reichlich durchsichtiges Manöver, um die Klimaaktivisten zu spalten.
Vermutlich in der Hoffnung, dass der «Greta-Hype» bald vorübergehe, versuchten die Tamedia-Blätter und die NZZ eine lange Weile, einer ernsthaften Auseinandersetzung mit einer Mischung aus paternalistischem Schulterklopfen und vernichtender Häme aus dem Weg zu gehen. «Kinderkreuzzug» nannte NZZ-Chefredaktor Eric Gujer die Bewegung und im Tages-Anzeiger verglich Karin Janker Greta Thunberg mit Donald Trump und machte sich lustig über das «makellose ungeschminkte Gesicht, die schlichten Zöpfe, die Sweatshirts und Karoblusen» der «asketischen Ikone». Über das, was Greta Thunberg und die jungen Klimaaktivisten zu sagen hatten, verloren beide kein einziges Wort.
Seit aber abzusehen ist, dass die Klimakids nicht so schnell von den Strassen verschwinden und Monat für Monat grösseren Zulauf bekommen, haben die NZZ und die Tamedia-Blätter ihre Abwehrdispositive korrigiert: Sie versuchen, die Klimaaktivisten einerseits mit Lob zu ersticken und ihnen zugleich Liebesentzug anzudrohen, wenn sie sich weiterhin erfrechen sollten, die gängige, auch von den bürgerlichen Medien vertretene Klimapolitik als das zu entlarven, was sie in Wirklichkeit ist: ein mit viel Lärm inszeniertes Täuschungsmanöver, um Wirtschaft und Wählerschaft bei Laune zu halten, ein letztlich verantwortungsloses Wegducken und Wegschauen, als gingen uns die Lebensbedingungen der künftigen Generationen nichts an.
Friday for Future spielt das Spiel nicht mit
Die neue Strategie ist einfach: Man versucht, die Klimaschutzbewegung zu spalten, die Lieben und Netten von Friday for Future gegen die Bösen und Radikalen von Extinction Rebellion (XR) aufzhetzen. Denn diesen, den gefährlichen, radikalen Hitzköpfen und den «verantwortungslosen Einflüsterern» der linken Parteien, geht es, so weiss die NZZ, gar nicht ums Klima, sondern um die Abschaffung des Kapitalismus, um den «System Change», die Durchsetzung von Öko-Diktatur und Sozialismus. Wie dieser Spaltungsversuch geht, haben der NZZ-Auslandchef Peter Rásonyi, der NZZ-Berlin-Korrespondent Marc Felix Serrao und drei Tamedia-Journalistinnen in den vergangenen Tagen vorgeführt.
Unglücklicherweise aber haben die Aktivisten von Extinction Rebellion der NZZ den erhofften Gefallen nicht getan: Sie blieben während ihrer ganzen Aktionswoche friedlich, gewaltlos und umgänglich; sie arrangierten sich in den meisten Städten mit der Polizei. Und sie kämpften nicht mit Steinen und Krawall, sondern mit wissenschaftlichen Fakten und klugen Argumenten. Und dann noch dies: Statt dass die Friday for Future-Kids sich von den XR-Rebellen distanzierten, solidarisierten sie sich mit ihnen und machten klar, dass sie das Verhalten der Politiker viel radikaler finden, die wider besseres Wissen alle wirksamen Massnahmen ablehnen, die zum Erreichen der Pariser Klimaziele notwendig wären.
Nur klar, dass sich Zeitungen, deren Chefredaktoren die Klimajugend als unreife Spinner oder – so Armin Müller in der SonntagsZeitung – als «kleine, radikale Minderheit» diffamierten, einige Mühe haben, nun die Kurve zu kriegen, seit die kleine radikale Minderheit zur weltweit grössten Protestbewegung seit Menschengedenken heranwuchs und den «Profis» in Politik und Medien spielend Paroli bietet.
Die Tamedia-Blätter haben keine eigene Meinung
Während die NZZ eine Volontärin losschickte, um zu erkunden, was denn eigentlich die XR-Rebellen so denken und tun, und ihr Berlin-Korrespondent in einem Café am Potsdamer Platz eine leibhaftige Rebellin traf, ohne weitere Schäden davonzutragen, halten die Tamedia-Blätter mit einer eigenen Meinung noch vorsichtig zurück und lassen vorläufig nur Gäste und Gastautoren Stellung beziehen. So etwa den britische Philosophen und XR-Aktivist Rupert Read, der von Alex Rühle, einem Redaktor der Süddeutschen Zeitung, interviewt wird und sagen darf: «Manchmal muss man das Gesetz brechen», weil «reguläre politische Mittel wie Demos oder Wahlen nicht mehr ausreichen, um die Klimakatastrophe zu verhindern». Und der auf den Vorwurf, XR sei antidemokratisch, antwortet: «Das ist einfach Blödsinn. XR steht für die Stärkung der Demokratie. Wir haben drei zentrale Forderungen an unsere Regierungen: Sagt die Wahrheit über das Ausmass der ökologischen Krise! Handelt endlich dementsprechend! Und drittens: Lebt eine neue Form von Politik, indem Bürgerversammlungen einberufen werden.Wir möchten, dass die Bürger miteinbezogen werden in den ökologischen Transformationsprozess. Schliesslich ist unsere repräsentative Demokratie schlichtweg daran gescheitert, auf den ökologischen Notstand zu reagieren. Wir wollen mehr Demokratie, nicht weniger.»
Als weiterer Gast durfte im Tages-Anzeiger auch Matthias Drobinski, auch er Redaktor der Süddeutschen Zeitung, seine Meinung äussern: Der zivile Ungehorsam ist «die Verletzung einer Rechtsnorm, um den Gerechtigkeitssinn und das Gewissen möglichst aller aufzurütteln. Der Geist von Mahatma Gandhi und Martin Luther King ist ein zutiefst demokratischer Geist.» Und: «Der demokratische Staat braucht den symbolischen Ungehorsam radikaler Minderheiten, sonst erstarrt er, entwickelt blinde Flecken. Er braucht den Zorn der Rebellen wider die Selbstausrottung, samt Apokalypse-Pathos und unausgegorenen Forderungen – damit auch die, die weniger radikal denken, merken: Die Erderhitzung ist ein Menschenexperiment mit ungewissem Ausgang, das wir vielleicht so nicht weiterlaufen lassen sollten.»
Wann endlich, fragt man sich, liest man in einer der grossen Schweizer Tageszeitungen statt Gastartikeln und Gastinterviews eine eindeutige redaktionelle Stellungnahme, wie man sie in der Süddeutschen Zeitung, beileibe kein linkes Revolverblatt, lesen kann. Oder in der Frankfurter Rundschau, wo der Redaktor Joachim Wille unmissverständlich schreibt: «Die XR-Aktivisten sehen die menschliche Zivilisation durch den Klimawandel bedroht. Sie analysieren ganz richtig: Es gibt nirgendwo auf der Welt Politiker, die die nötigen Maßnahmen ergreifen, um das 1,5-Grad-Erwärmungslimit zu halten. Vielmehr steuert der Globus auf eine Heisszeit zu, die unsere Zivilisation in der Tat nicht überleben würde. Was ist da folgerichtiger als ein ‹Aufstand gegen das Aussterben›?» (CR)