11’000 Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus 153 Länder rufen den Klimanotstand aus. Das ist alles andere als «Klima-Hysterie», denn: Eine Studie zuhanden des Weltklimagipfels, der im Dezember in Madrid stattfindet, zeigt, dass zwei Drittel der Staaten, welche das Pariser Klimaabkommen ratifiziert haben, eine Klimapolitik betreiben, welche die Erderhitzung nicht im Geringsten zu bremsen vermag.

Das Ergebnis der Studie «The Truth behind the Climate Pledges» (Die Wahrheit hinter den Klima-Zusagen) ist absolut alarmierend. Untersucht hat das hochkarätige Wissenschaftsteam zum einen, inwieweit die von den einzelnen Ländern gemachten Zusagen den Zielen des Pariser Klimaabkommens entsprechen,. Und zum anderen, inwieweit sich diese nationalen Ziele mit den konkret geplanten Massnahmen erreichen lassen.

Das Ganze ist einigermassen kompliziert, deshalb hier ein kleiner Exkurs: Im Pariser Vertrag von 2015 wurden bloss verbindliche Temperaturlimiten beschlossen; jedes Land konnte damals nach eigenem Gutdünken nationale Klimaziele festlegen. Diese nationalen Klimaziele werden alle fünf Jahre überprüft, erstmals also im kommenden Jahr, und sollen dann verschärft werden, falls sich das globale Klimaziel mit den zugesicherten Reduktionszielen nicht erreichen lässt. Allerdings ist jetzt schon klar: Selbst wenn alle vorliegenden nationalen Pläne eingehalten würden, was bekanntlich für viele Länder nicht zutrifft, dürfte die globale Durchschnittstemperatur bis 2100 um 3 bis 4 Grad ansteigen; das beschlossene Ziel von 1,5 bis höchstens 2 Grad würde schon in der Mitte des Jahrhunderts deutlich verfehlt.

Die Emissionen werden weiter ansteigen

Was aber hat die Studie ergeben? Zwei Drittel der 184 nationalen Pläne zum Klimaschutz reichen nicht einmal aus, um den Temperaturanstieg wenigstens zu bremsen. Selbst wenn alle Staaten ihre Zusagen einhalten, werden die Treibhausgasemissionen bis mindestens 2030 weiter ansteigen. Von den fünf Ländern oder Staatenbündnissen mit den grössten Emissionen hat, so das Online-Portal Klimareporter, nur die EU (Platz 3) ausreichende Pläne. Die Zusagen von China (Platz 1) und Indien (Platz 4) sehen hingegen vor, dass die eigenen Emissionen bis mindestens 2030 noch weiter ansteigen. Das gilt auch für Russland (Platz 5), das zwar einen Plan gefasst hat, ihn aber noch nicht beim UN-Klimasekretariat eingereicht hat. Unklar war für die Autoren, wie sich die USA (Platz zwei) verhalten werden; inzwischen hat Präsident Trump das Pariser Klimaabkommen gekündigt..

Bei 36 Staaten, so die Studie weiter, sind die Selbstverpflichtungen so allgemein, dass sich daraus gar keine konkreten Reduktionszusagen ableiten lassen, so etwa bei Südafrika und Kuba. Fünf Golfstaaten, darunter Saudi-Arabien und Kuwait, boten explizit gar keine Senkung an.

Unklar ist die Situation auch bei 70 vorwiegend sehr armen Ländern. Sie machen ihre nationalen Ziele davon abhängig, ob sie die von den Industriestaaten zugesagte finanzielle Hilfe bekommen. Falls nicht, werden ihre Zusagen hinfällig. Eine «mittlere» Gruppe von 20 Länder will ihren Ausstoß zwar senken, aber bloss in sehr kleinem Umfang. Zu dieser Gruppe gehören Japan, Brasilien, Australien, Südkorea und Kanada. Positiv bewerten die Prüfer ausser der EU nur Island, Norwegen, die Schweiz, Liechtenstein, Monaco, die Ukraine und Moldawien. Sie alle streben Reduktionen von 40 Prozent oder mehr an.

2017 lag der weltweite Ausstoß aller Treibhausgase bei etwas mehr als 50 Milliarden Tonnen CO₂-Äquivalenten. Bis 2030, so die Studie, könnten die Emissionen auf ungefähr 54 Milliarden Tonnen zunehmen. Um die Erhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, müssten sich die Emissionen im nächsten Jahrzehnt jedoch halbieren, meint.Nebojsa Nakicenovic, einer der langjährigen Leadautoren beim Weltklimarat und Professor für Energiewirtschaft an der Technischen Universität Wien. Pointiert formuliert: Die Welt versagt im Kampf gegen den Klimawandel fast auf der ganzen Linie. Weltweit beteuern Politikerinnen und Politiker, wie wichtig ihnen das Klimaproblem ist (Angela Merkel: «Wir haben den Weckruf verstanden!»), In Wirklichkeit aber tun sie wider besseres Wissen und gegen alle Vernunft kaum etwa, was die Klimaerhitzung bremsen könnte.

11’000 Wissenschafter rufen den Klima-Notstand aus

Die alarmierende Studie hat bislang in den Schweizer Medien erstaunlicherweise kein grosses Echo gefunden, umso mehr aber bei den Experten. Weltweit 11’000 Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben als Reaktion in der Fachzeitschrift Bioscience. eine Erklärung unterschrieben, eine Art Klimanotstands-Erklärung: «Wir haben als Wissenschaftler die moralische Pflicht, die Menschheit vor drohenden Katastrophen zu warnen und die Dinge beim Namen zu nennen», schreiben sie. Seit 40 Jahren hätten sie auf Konferenzen und Gipfeln vor dem Klimawandel gewarnt, und das, wie die Studie zeigt, offensichtlich ohne grossen Erfolg. Nun sei eine «immense Steigerung der Anstrengungen» nötig, um «unsägliches Leiden infolge der Klimakrise» zu vermeiden.

Auch die Schweiz muss ihre Klimaziele massiv erhöhen

Eigentlich müsste die Studie auch in der Schweiz ein grösseres Erdbeben auslösen. auch wenn unser Land in der Studie relativ gut wegkommt, Denn die gute Position verdankt die Schweiz einer methodischen Schwäche der Studie: Sie misst alle Länder, ob arm oder reich, klein oder gross, mit der gleichen Elle, den absoluten Emissionen eines Landes. Im Pariser Klimaabkommen heisst es aber völlig zu recht, die Länder trügen eine „gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung“. Das bedeutet konkret: Reiche Länder, die im Verlauf ihrer Geschichte auch sehr viel Emissionen (pro Kopf) verursacht haben, haben eine viel grössere Verantwortung und müssen sehr viel mehr tun als arme Länder, die kaum zur Klimaerhitzung beigetragen haben, aber am meisten darunter zu leiden haben. Die Schweiz mit ihren Emissionen von jährlich rund 6 Tonnen CO2 pro Kopf plus einem Mehrfachen davon an «grauen Emissionen» müsste einen weit grösseren Beitrag zur Reduktion der weltweiten Treibhausgasemissionen leisten, als der Bundesrat, der Ständerat und jetzt auch die vorberatende Kommission für die Revision des CO2-Gesetzes vorschlagen.

Die Frage muss erlaubt sein, ob es Sinn macht, aus blosser Angst vor dem Volk einem Klimagesetz zuzustimmen, das nach überwiegender Meinung nicht einmal ausreicht, um die unzureichenden Zusagen der Schweiz (minus 40 Prozent bis 2030) tatsächlich zu erreichen. (CR)