Was soll man eigentlich von Sätzen wie den folgenden halten, nachdem man sich vom Lachkrampf erholt hat? «Wenn das grosse Nichts auf uns zurast, dann müssen wir ihm Einhalt gebieten. Um es zu stoppen, ist alles erlaubt. Denn wenn wir zulassen, dass das Nichts uns trifft, ist alles – nichts.»
Worum geht es? Mit dem «rasende Nichts» meint René Scheu, der geistreichelnde Feuilletonchef der NZZ am Samstag in einer Attacke gegen die Klimaaktivisten von Extinction Rebellion die Klimakatastrophe. Und das verquälte Wortspiel um Nichts und gar nichts beschreibt seiner Meinung nach die «Philosophie» der Klimarebellen.
Lange hat sich Scheu Zeit gelassen für seinen Angriff auf die Klimabewegung. War ja auch keine einfache Aufgabe, nachdem die NZZ seit Monaten aus allen Rohren gegen die Klimaaktivisten feuert, zuerst mit hämischen und abschätzigen Kommentaren über Greta Thunberg, dann mit völlig unbelegten Verdächtigungen gegenüber vermeintlichen linken Drahtziehern hinter ihr, dann mit Warnungen vor einer Radikalisierung der Aktivisten und schliesslich mit «Wehret-den-Anfängen»-Artikeln, welche Extinction Rebellion wider besseres Wissen Gewaltphantasien andichteten. Was bleibt da für den Feuilletonchef anderes übrig als der ganzen bisherigen Drecklerei mit raunendem Wortgeklingel den philosophischen Segen zu erteilen.
Hat denn jemand ein Klimaproblem?
Dass es der NZZ nicht passt, dass Extinction Rebellion (und auch immer mehr Aktivisten von Fridays for Future) die sogenannte «System-Frage» stellen, leuchtet ja ein; die Zeitung gehört schliesslich zu den letzten unbeirrbaren Propagandisten eines ungebrochenen Neoliberalismus. Eigentlich müsste man von ihr erwarten, dass sie ihren Leserinnen und Lesern eloquent und stichhaltig zu erklären versucht, warum ihr wunderbarer Kapitalismus es seit mindestens 30 Jahren, also seit die Wissenschaft dringend vor der Klimaerwärmung als reale Menschheitsbedrohung warnt, einfach nicht schafftt, die Zunahme der Treibhausgasemissionen wenigstens ein ganz klein wenig zu bremsen.
Aber unser NZZ-Philosoph wählt einen ganz anderen Weg, vermutlich auch deshalb, weil er offensichtlich gar nicht über das politologische und ökonomische Rüstzeug für eine derartige Verteidigungsrede verfügt. Scheu transferiert das leidige Problem also von der Ebene banaler Fakten in die luftige Sphäre der Moralphilosophie. Einmal dort oben angelangt, braucht er sich nicht mehr im Geringsten um Treibhausgasemissionen, Erderhitzung, Dürren, Extremwetter und ähnliche Kleinigkeiten zu kümmern. Dies alles ist für Scheu ohnehin keine Frage von Fakten und klimapolitischen Massnahmen, sondern eine Frage der Optik. Die Klimaaktivisten haben, meint Scheu, einfach die falsche Brille auf. «Wer die Welt durch eine solche Linse betrachtet», höhnt er, «hat nicht nur das Recht, sondern geradezu die moralische Pflicht, aufzubegehren, sich aufzulehnen, aufzustehen, zu rebellieren.»
Die Unmoral der politischen Moralisten
Hat man so die Kernfrage, was denn gegen den Klimawandel eigentlich getan werden soll oder muss, zum Verschwinden gebracht, geht es dann nur noch darum, ob die fehlgeleiteten Klima-Rebellen eine richtige oder falsche Moralauffassung haben. Scheu bedient sich zur Beantwortung dieser Frage beim konservativen, inzwischen längst vergessenen Philosophen Hermann Lübbe, der sich während seiner Zeit als Professor an der Uni Zürich von 1971 bis 1991 vor allem als Kämpfer gegen die Kritische Theorie, gegen Habermas und die damalige Studentenbewegung. zu profilieren suchte. Später war er dann immer rechtzeitig mit Aufsätzen zur Stelle, wenn es darum ging, die gewaltigen Kollateralschäden des Kapitalismus als alternativlos und unausweichlich zu verteidigen.
Lübbe konstruiert in seinem Büchlein «Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft» (Siedler Verlag, Berlin) aus dem Jahr 1987 einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen «gelebter Moral » (= gut) und «politischem Moralismus (= schlecht). Der politische Moralist, so behauptet Scheu mit Lübbe, «pfeift auf den moralischen Gemeinsinn, wie er sich in Alltag und Gesetz spiegelt.» Das heisst ausgedeutscht: Während die sogenannte gelebte Moral «weltumspannende Zusammenhänge, Kosten-Nutzen-Überlegungen, das Verhältnis von Ich und Welt, die Abwägung von eigenen und fremden Interessen, die Unterscheidung von Ideal- und Realfall» miteinbeziehe, spiele das für die «Politmoralisten» keine Rolle; für sie zähle einzig das Alles oder Nichts. Und so unterstellt Scheu den «Moralaktivisten: «Wer das Schlimmste verhindern will, muss bereit sein, Schlimmes zu tun. Der höhere Zweck heiligt alle niederen Mittel. (…) Der Politmoralismus ist so gesehen strikt amoralisch.»
Die Klimarebellen sind zur Gewaltanwendung «verpflichtet»
Damit rückt Scheu Extinction Rebellion gesinnungsmässig in die Nähe des Terrorismus aller möglichen Prägungen. Und ohne irgendwelche Belege, Beweise oder wenigstens Indizien anzuführen, behauptet er: «Auch wenn sie auf offene Gewaltanwendung im Dienst der höheren Sache zu verzichten geloben, bleiben sie dazu nach ihrer inneren Verwandlung dennoch fähig – und nach ihrem eigenen Verständnis im Grunde sogar verpflichtet.» Solche perfiden Diffamierungen müssten eigentlich einklagbar sein.
Ab in den Wald! Das lästige Ding mit dem zivilen Ungehorsam.
Nachdem er das eigentliche Thema, die Klimaerhitzung, als fiktives Ergebnis einer falschen Optik entsorgt und die Klimaaktivisten des potenziellen Terrorismus «überführt» hat, macht sich Scheu auch noch über den zivilen Ungehorsam her, den die «Moralaktivisten» ganz und gar nicht philosophiegemäss praktizieren würden. Richtig durchgeführt sei der nämlich so, wie ihn der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau vor 170 Jahren praktiziert habe. Thoreau hat sich aus Protest gegen die Sklaverei als Einsiedler in die Wälder zurückgezogen und seine Steuern nicht bezahlt. Dass die Nachfolger Thoreau, von Gandhi über Martin Luther King bis zu den heutigen Protestbewegungen in aller Welt, den kleinen Nachteil von Thoreaux› Praxis inzwischen korrigiert haben, nämlich dass diese Art von Protest ausser einem einzelnen Steuerbeamten wohl keinen Menschen gekratzt hat, dass die heutigen zivilen Ungehorsamen lieber kollektiv auf die Strasse als allein in den Wald gehen, ist für Scheu natürlich ein Ärgernis. Denn: Wenn, durch die richtige Linse betrachtet, das Klimaproblem bloss ein Nichts ist, warum sollen dann die selbstermächtigten moralisierenden Welterretter mit potenziell terroristischem zivilen Ungehorsam den prächtigen Gang der Dinge stören? Wo sich doch mit der richtigen Brille und der richtigen Moralauffassung das leidige Klimaproblem ganz von selbst erledigt. Eine wahrhaft schwierige philosophische Frage. (CR)