Die EU galt (zu Unrecht) schon bisher als vorbildliche Klimaschützerin. Jetzt will die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aber noch mehr Gas geben. Am Mittwoch stellte sie das 24-seitige Konzept  eines «European Green Deal» vor. Damit soll die EU, also fast ganz Europa, bis 2050 klimaneutral werden.

Sie will, ganz im Gegensatz zur deutschen Regierung mit ihrem Klimapaket oder die Schweiz mit ihrem CO2-Gesetz, nicht bloss an ein paar Schräubchen drehen und Klimaschutz nur dort betreiben, wo er garantiert niemandem «weh tut». Nein, die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will der Klimapolitik allererste Priorität einräumen und stellt, kaum im Amt, einen ziemlich ambitiösen Plan vor, der allerdings auch einiges kosten wird. Er soll übrigens in der Schlussphase des Weltklimagipfels auch andere Staaten anspornen, für das kommende Jahr ihre Klimapläne massiv zu verschärfen.

Die bisherige EU-Klimapolitik verfehlt das Pariser Klimaziel.

Wenn die EU bis Mitte des Jahrhunderts das Klimaziel Netto-Null tatsächlich erreichen will, muss sie aber als Erstes auch das Ziel für 2030 deutlich nachjustieren. Bisher galt für 2030 das Ziel «Minus 40 Prozent», das allerdings mit den bisher geplanten Massnahmen nicht zu erreichen ist – von den EU-Ländern sind nur drei, nämlich Griechenland, Portugal und Schweden bisher auf Kurs; insgesamt landet die Gesamt-EU gemäss einem Report der Europäischen Umweltagentur (EUA) mit den bisherigen Massnahmen bis 2030 bei schwachen 30 und 36 Prozent. Als neues Ziel peilt Brüssel bis 2030 eine CO2-Reduktion um «mindestens 50 Prozent“ an, «eventuell aber auch bis zu 55 Prozent“. Das klappt allerdings nur, wenn ein beträchtlicher Teil der in Europa anfallenden Emissionen in Entwicklungsländern kompensiert werden kann, was Umweltverbände und immer mehr Klimaökonomen für einen falschen Weg halten.

Der Öko-Report der EUA zeigt aber auch, dass von den 35 einzelnen Umwelt- und Klimazielen für 2020 nur gerade sechs erreicht werden, so etwa die Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden, die chemische Verschmutzung sowie den Erhalt von Lebensräumen und Arten. Europa stehe, sagt von der Leyen richtig, «im Umweltbereich vor Herausforderungen von nie dagewesener Grössenordnung und Dringlichkeit“.

Ein ganzes Paket unterschiedlichster Massnahmen

In der Tat umfasst der «Green Deal» ein ganzes Pakt an Massnahmen; man wolle ja, so die Kommissionspräsidentin, sowohl «Wirtschaft und Konsum mit unserem Planeten versöhnen», die Emissionen reduzieren, aber auch Arbeitsplätze schaffen und Innovationen vorantreiben. Dabei gehe es auch um Biodiversität, Naturerbe, Kreislaufwirtschaft und vieles andere mehr.

Viel zu diskutieren wird vor allem ein Art Tabubruch geben, den man von der ehemaligen deutschen CDU-Ministerin wohl kaum erwartet hat. Ohne einen tiefgreifenden Umbau der Wirtschaft, so von der Leyen, werden diese Ziele nicht zu erfüllen sein. Dazu sei nicht bloß das Mitwirken einzelner Branchen gefordert. Gefragt seien alle: Energieerzeugung, Industrie, Verkehr, Landwirtschaft, Bauwesen. Konzerne und Konsumenten.

Zwar habe die Kommission noch nicht alle Antworten parat, das Konzept sei erst ein Anfang. Aber – und da unterscheidet sich der Ansatz doch sehr wesentlich von den bisherigen Ansätzen – es sei auch klar, dass «das Wachstumsmodell, das auf fossile Energie und Verschmutzung aufbaut, keine Zukunft mehr» habe. Grossen Wert legte von der Leyen laut dem deutschen Online-Portal Klimareporter vor allem auch auf die Gerechtigkeitsfrage: «Entweder funktioniert dieser Übergang für alle oder er wird gar nicht funktionieren.»

Zu den insgesamt 47 Vorschlägen des Green Deal gehören neben einem europäischen Klimagesetz unter anderem:

  • Bis Sommer 2020 soll ein sogenannter Plan zur Folgenabschätzung vorgelegt werden,
  • die Entscheidungsprozesse sollen vereinfacht werden. Änderungen an der wichtigen Energiesteuerrichtlinie sollen künftig nicht mehr nur einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit möglich sein.
  • Um zu verhindern, dass Industrieunternehmen wegen der höheren CO2-Kosten ins Ausland abwandern, schlägt der Green Deal für ausgewählte Sektoren eine Art CO2-Grenzsteuer vor.
  • Die bisherige jährliche Rate bei der energetischen Gebäudesanierung soll mindestens verdoppelt werden.
  • Die Verkehrsemissionen sollen bis 2050 um 90 Prozent gesenkt werden. Dazu sollen in diesem Zeitraum 75 Prozent der auf der Straße beförderten Güter auf die Schiene und die Binnenwasserstraßen verlagert werden.
  • Um den Strukturwandel in Kohle- und anderen Industrieregionen «abzufedern», will von der Leyen einen zweistelligen Milliardenbetrag locker machen. Insgesamt wird der „Green Deal“ rund eine Billion Euro kosten – finanziert mit öffentlichen und privaten Geldern.

Klar, dass der «European Green Deal» nicht überall Begeisterung auslöst. In der Sonderdebatte des EU-Parlaments am Mittwoch wurde unter anderem der Alleingang der EU-Kommission sowie die kurze Vorbereitungszeit kritisiert. Auch seien die Pläne zu wenig marktwirtschaftlich und technologieoffen. Wichtiger ist der Einwand der deutschen Umweltverbände, dass das Klimagesetz erst im Sommer 2020 ins EU-Parlament komme. Das sei eindeutig zu spät. Damit auch andere große CO2-Verursacher ihre Ziele anheben, müsse die EU-Kommission spätestens im Frühling ihre Vorschläge vorlegen. Wenig Freude signalisiert auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI); ihm gehen von der Leyens Pläne viel zu weit. Die ständige Verschärfung der Klimaziele führe zu einer Verunsicherung der Konsumenten und Unternehmen, sagte BDI-Präsident Dieter Kempf. Generell kann von der Leyen aber mit Unterstützung rechnen. Die großen Fraktionen von Europäischer Volkspartei, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen signalisierten grundsätzliche Rückendeckung.

Scheuklappen-Journalismus à la NZZ

Völlig in den falschen Hals geraten ist von der Leyens Green-Deal-Konzept dem Berlin-Korrespondent der NZZ Christoph Eisenring, einem der letzten Kämpfer für die reine Lehre des Neoliberalismus. Für ihn, der schon beim deutschen Kohlenausstieg vor lauter Aufregung die Fakten aus den Augen verlor, ist der Green Deal nicht bloss ein Verrat an den neoliberalen Grundüberzeugungen, sondern, noch viel schlimmer, ein Verrat am Erbe der Aufklärung. Zwar ist seine Behauptung, die EU verdanke ihren klimapolitischen «Erfolg» vor allem dem Emissionshandel, gleich doppelt falsch, denn erstens ist die bisherige Klimapolitik der EU kein Erfolg (siehe oben) und zweitens funktioniert der Zertifikatshandel höchst mangelhaft bis gar nicht (siehe hier). Trotzdem erklärt Eisenring den Emissionshandel zum «Paradebeispiel für eine marktwirtschaftliche Umweltpolitik», die es gälte weiterzuentwickeln.

Der «grüne Deal» sei nichts als ein Fest für Bürokraten und führe zu mehr Staatseinfluss. Das Grundübel der künftigen EU-Klimapolitik sei die Wettbewerbsverzerrung durch milliardenschwere Subventionen etwa von Fabriken, in denen Batteriezellen für Elektroautos gebaut werden sollen. Dass der freie Wettbewerb bisher nur dazu geführt hat, dass der überwiegende Teil der Batterien in China, Japan und Korea hergestellt wird, während die deutsche Industrie den Wettbewerb völlig verschlafen hat, vergisst Eisenring zu erwähnen. Es passt einfach nicht in seine neoliberale Märchenwelt. Andere Klimamassnahmen bezeichnet Eisenring als «allerhand unnötigen und teuren Krimskrams».

Nur gerade in einem Nebensatz erwähnt der neoliberale Kämpfer, der offenbar lieber an der Klimaerhitzung zugrundegehen würde als an einer Wettbewerbsverzerrung, dass das bisherige wettbewerbsgetriebene Wirtschaften mit ökologischen Kosten – er meint damit all die Dürren, Überschwemmungen, Extremwetterkatastrophen etc. – einhergehe, aber was soll’s: «Trotzdem muss Europa nicht im Büsserhemd herumlaufen. Vielmehr könnte es Vorbild sein. Statt aber auf Alarmismus zu machen, gälte es, auf einen marktwirtschaftlichen Klimaschutz zu setzen, der auf den Erfindergeist baut und diesen weckt.» Man kann diese nicht auch Scheuklappen-Journalismus nennen. (CR)

Ein Nachtrag (13. Dezember)

Kaum dass Ursula von der Leyen ihr Konzept eines European Green Deal veröffentlicht hatte, hagelte es auch schon heftige Kritik der drei EU-Mitgliedstaaten Ungarn, Polen und Tschechien, drei Staaten, die ihren Primärenergiebedarf vorwiegend durch Kohleverstromung decken. Am EU-Gipfel vom vergangenem Donnerstag wagten sie allerdings noch nicht, den Green Deal frontal anzugreifen. Statt dessen ging es um die Bedeutung der Atomenergie. So forderte der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis konkrete Zusagen zugunsten der Atomenergie: «Ohne Kernenergie erreichen wir die Klimaneutralität nicht.» Die EU-Kommission und der Gipfel, so zitiert die NZZ Babis, müssten klar feststellen, dass die Atomenergie «sauber» sei. Dieser Position schloss sich Ungarn an, während Frankreich die Atomkraft als legitime «Übergangsenergie» bezeichnete. Mehrere Länder, so unter anderem Luxemburg, Deutschland und Österreich, sehen in diesem Vorstoss den Versuch, eine Hintertüre zur weiteren Subventionierung von Atomkraftwerken zu öffnen. Anders würde dieser Vorstoss gar keinen Sinn machen, denn in der EU kann jedes Land selber entscheiden, auf welche es seinen Energiebedarf decken will, solange dies die Reduktionsziele für CO2 nicht tangiert. (CR)