Mutiert die NZZ im neuen Jahr zur Speerspitze der Klimajugend? Fast könnte man es meinen. «Die Jugend hat recht», titelte sie am 28. Dezember. Doch leider Fehlalarm, denn: Kaum hat man sich vom ersten Staunen erholt, macht Peter A. Fischer, Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion, klar, wie er sich das mit dem Rechthaben vorstellt: Für ihn kann nur Recht haben, wer darauf schwört, dass der «freiheitliche Kapitalismus» es schon irgendwie richten wird.
Klar ist, schreibt Fischer, um seine Leserinnen und Leser zuerst ein bisschen zu erschrecken: «Klar ist: Die Jugend hat recht, wenn sie die Älteren an deren moralische Verantwortung erinnert, den Lebensraum nachfolgenden Generationen intakt zu übergeben.» Das klingt gut. Es braucht aber schon einiges an Mut, am Ende ausgerechnet dieses Jahres von moralischer Verantwortung zu plaudern, nach einem Jahr, in dem einige der knallhart kapitalistischen Länder wie die USA, Japan, Australien, Neuseeland und Brasilien, mit dafür verantwortlich waren, dass der Klimagipfel von Madrid gescheitert ist. Erst recht, dass «die Älteren» die Verantwortung hätten, den nachfolgenden Generationen einen intakten – das schreibt Fischer tatsächlich: – einen intakten Lebensraum zu hinterlassen.
2019 – eine Katastrophe nach der anderen
Liest er denn, fragt man sich, nicht wenigstens seine eigene Zeitung, etwa seinen Wissenschaftsredaktor Sven Titz, der kaum noch nachkommt, all die grossen und kleinen Umweltkatastrophen aufzuzählen, die sich Tag für Tag und zunehmend überall auf der Welt ereignen? Hat er denn wirklich bis heute noch nicht davon gehört, was in den Reports des Weltklimarates steht? Dass die Umwelt nämlich schon längst nicht mehr intakt ist. Davon, dass die überwiegende Mehrheit der Klimawissenschafter immer eindringlicher fordert, dass endlich nicht nur ver-, sondern subito gehandelt werden müsse, wenn der Menschheit wenigstens die schlimmsten Katastrophen erspart bleiben sollen? Liest er nicht seinen eigenen kompetenten Energiespezialisten Helmut Stalder, der jedes Mal, wenn er wieder einmal darf, darauf hinweist dass eine kleine Flugticketabgabe, ein mickriger CO2-Preis oder eine winzige Benzinpreiserhöhung, wie sie die «Älteren» vorschlagen, bei weitem nicht ausreichen, dass die CO2-Emissionen sinken oder wenigstens stagnieren?
Natürlich wird niemand im Ernst vom Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion erwarten, dass er plötzlich seinem Kinderglauben an die Zaubermacht des Marktes abschwört. Aber dass er dann doch wieder nur ein paar Nebelkerzen in Stellung bringt und das alte Eiapopeia jener Schwundstufe von Liberalismus singt, die nach Stiglitz, Krugman, Piketty & Co. nicht einmal die aufgeschlosseneren Köpfe unter den liberalen Ökonomen in dieser Rigorosität vertreten – das ist dann doch ernüchternd, wo doch alle Welt spätestens seit der Finanzkrise 2008 weiss, dass es ohne die milliardenschweren Rettungsmanöver des verachteten Staates Fischers menschheitsbeglückenden Kapitalismus gar nicht mehr so gäbe. Und dass die «freiheitlichen Kapitalisten» seit jeher heftig darum kämpfen, dass es zu jeder kleinsten staatlichen Regulierung hundert Ausnahmen und Schlupflöcher gibt.
Fischers Wintermärchen
Fischers Intro besteht, wie das in der NZZ seit längerem üblich ist, aus einer Diffamierung der Klimaaktivistin Greta Thunberg. Sie muss die Wanderprediger des «freiheitlichen Kapitalismus» tief verletzt haben, dass sie ihr bei jeder Gelegenheit wieder eins über die Rübe ziehen. Denn klar, so unverblümt hat kaum je eine Sechzehnjährige den versammelten Bossen der Welt die Leviten gelesen wie Thunberg in ihrer «Wie konntet Ihr es wagen!»-Rede von New York: «Menschen leiden, Menschen sterben, ganze Ökosysteme kollabieren. Wir sind am Anfang eines Massen-Aussterbens, und alles, worüber Ihr reden könnt, sind Geld und Märchen von ewigem wirtschaftlichen Wachstum.»
Fischers Verteidigungsrede für die positiven Klimawirkungen des «freiheitlichen Kapitalismus» ist aber eher unbeholfen und dürftig – und sie hat vor allem kaum etwas mit dem Klima zu tun: Fischer erwähnt die seit Gretas Grossmutter gestiegene Lebenserwartung und gesunkene Kindersterblichkeit, er verweist auf das arme Kind in der mongolischen Wüste ohne Strom, das abends keine Bücher lesen kann. Das sind, pardon, Argumente für die Sonntagsschule, aber nicht für die Frontseite der NZZ. Man kommt sich ein bisschen vor wie auf einer Titanic, wo die Erstklass-Passagiere sich darob begeistern, dass sie dank der Erfindung des Kühlschranks nicht auf Kaviar und Champagner verzichten müssen, derweil das Schiff schon schwere Schlagseite hat.
«Reich ist grün», philosophiert Fischer und wer versucht, diesen Satz zu verstehen, ist selber schuld. Weitaus klarer, wenn auch völlig am Thema vorbei, sind Sätze wie: «Die Menge an CO2, die zur Produktion von kaufkraftbereinigten 1000 Dollar an Wirtschaftsleistung ausgestossen wird, hat sich in Europa in den letzten vierzig Jahren um etwa zwei Drittel verringert.» Kaufkraftbereinigt oder was auch immer hin oder her – klimarelevant ist einzig die Tatsache, dass die weltweiten CO2-Emissionen von 1960 bis 2018 von 9,3 auf 36,6 Milliarden Tonnen pro Jahr zugenommen haben. Trotz «freiheitlichem Kapitalismus». Von ähnlicher intellektueller Qualität sind Sätze wie: «Die Umweltzerstörung nimmt ab, sobald sich die Menschen den Fortschritt leisten können.» Da werden vermutlich selbst die reichen SUV-Fahrer auf ihrem Wochenend-Trip nach New York etwas verlegen abwinken: Wir als Klimaretter? – doch etwas zu viel der Ehre.
Lieber als Fakten liebt Fischer das fröhliches Spekulieren: «Wird schliesslich das Elektro- oder das Wasserstoffauto uns einen wichtigen Schritt in Richtung CO2-neutraler Mobilität bringen? Oder vielleicht etwas Drittes, derzeit noch nicht Bekanntes?» Der Königsweg gegen den Klimawandel ist für Fischer jedenfalls klar: Der freie Wettbewerb der Ideen und Projekte wird schon dafür sorgen,»dass sich das Beste durchsetzt». Vielleicht, so Fischer, werden wir künftig kaum mehr Kohle verbrauchen, oder wir werden das dabei freigesetzte CO2 wieder neutralisieren.» Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Damit das aber gelinge, so Fischer, «braucht es Firmen und Investoren, die nach Gewinnen streben. Sie erst sorgen dafür, dass das Kapital in die erfolgversprechendsten Projekte fliesst.» Und es braucht «einen Staat, der sich darauf beschränkt, den Ordnungsrahmen und die richtigen Anreize und Regeln zu setzen und Eigentumsrechte zu schützen, statt selber ins Wirtschaftsleben einzugreifen.»
Was, fragt man sich, ist denn schiefgelaufen, dass sich in den vergangenen dreissig Jahren, seit den ersten Klimakonferenzen und während den Reagan- und Thatcherjahren des ungebrochenen Libertären Kapitalismus, das versprochene Beste nicht durchgesetzt hat? An Firmen und Unternehmen, die nach Gewinn streben, hat es ja ebenso wenig gefehlt wie am freien Wettbewerb der Ideen und Projekte. Und dass der «freiheitliche Kapitalismus» unter einem «überbordenden Staat» allzu heftig gelitten hat, wird man wohl auch nicht behaupten können. Trotzdem schreibt Fischer: «Der freiheitliche Kapitalismus und das Wirtschaftswachstum sind somit der Schlüssel, um Umweltprobleme zu beheben.»
Also doch ein Happy End für die Jugend, ganz gegen die finsteren Anschuldigungen der wildgewordenen Greta? Ja, sie soll, so Fischer, «Visionen entwickeln und diese nicht nur auf der Strasse testen. Sie darf dabei darauf zählen, dass eine offene Marktwirtschaft Zukunft viel besser ermöglicht als jedes andere System.» Bleibt zuletzt bloss eine kleine, bisher unbeantwortete Frage: Was geschieht eigentlich mit dem Klima, wenn die Jugend zusammen mit Peter A. Fischer den freiheitlichen Kapitalismus gerettet haben? (CR)