Jetzt wissen wir, was wir eigentlich schon seit Jahren wissen: Die Energiewende – Netto Null bis 2050 – ist durchaus möglich, ohne dass die Schweiz zugrunde geht. Wir müssen es nur wollen.

Das Statement ist klar und unmissverständlich: «Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern und der Kernenergie ist technisch machbar, wirtschaftlich interessant und sozialverträglich möglich; wir müssen es nur wollen», sagte Hans-Rudolf Schalcher, Leiter des Nationalen Forschungsprogramms «Energiewende», als er vor einigen Tagen die Ergebnisse von rund 100 Nationalfonds-Forschungsprogrammen zur Energiewende und zur Steuerung des Energieverbrauchs vorstellte.

An diesen Sätzen werden sich bürgerliche Politiker, Wirtschafts-Lobbyisten und Verbandsfunktionäre in Zukunft die Zähne ausbeissen müssen. Denn mit der Veröffentlichtung des Energiewende-Berichts des Nationalfonds sind ihre Verteidigungslinien weitgehend zusammengebrochen. Wer fortan gegen Netto Null bis 2050 agitiert, hat die Wissenschaft gegen sich und muss sehr gut begründen können, warum er es besser weiss als die rund 300 Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die an diesen Projekten mitgearbeitet haben.

Die Argumente der Bremser sind haltlos

Zwar hatten die selbsternannten bürgerlichen Experten in Politik, Wirtschaft und Medien schon bisher kaum je triftige, wissenschaftlich abgestützte Argumente, aber sie taten wenigstens so. Wann immer von der Energiewende, der Energiestrategie 2050, vom CO2-Gesetz, von Flugticketabgabe oder CO2-Bepreisung die Rede war, konterten sie mit dem einfachen Argument: Völlig unmöglich. Die Vorstellung, man könne in so kurzer Zeit gleichzeitig aus der Kernkraft und der fossilen Energie aussteigen, sei eine hirnverbrannte Illusion. Eine Flugticketabgabe? Völlig sinnlos, meinte die Fluglobby, wir sind doch jetzt schon fast ein bisschen grün. Die Autoimporteure kämpften mit Leidenschaft für das Menschenrecht auf 4×4 und SUV. Die Professoren Silvio Borner und Reiner Eichenberger von der Klimaleugner-Bruderschaft Carnot-Cournot prophezeiten in der NZZ alle paar Wochen den Untergang der Schweizer Wirtschaft, und die Chefredaktoren der NZZ, der Tamedia-Blätter oder der AZ-Medien nickten dazu fleissig, rieten zur Vernunft und ätzten gegen die Forderungen der Klimajugend, endlich erwachsen zu werden und mit der Energiewende vorwärts zu machen. In den Leserbriefspalten und Online-Kommentaren schliesslich tobte sich der Stammtisch aus, gegen die grünen Spinner, gegen Ökoterroristen, korrupte Wissenschafter und geistesgestörte Gretas, die uns allen doch nur unseren wohlverdienten Wohlstand wegnehmen wollten.

20 Prozent glauben nicht an den Klimawandel

Die Forschungsprogramme «Energiewende» (NFP 70) und «Steuerung des Energieverbrauchs» (NFP 71) umfassen rund hundert Forschungsprojekte, an denen über 300 Wissenschafterinnen und Wissenschafter mitgearbeitet haben. Viele von ihnen betreffen ganz konkrete Dinge; so seien, heisst es im Resümee, Technologien für die Energiespeicherung mittels Batterien oder Druckluft sowie neuartige Brennstoffzellen erforscht und bekannte Technologien wie die gebäudeintegrierte Photovoltaik weiterentwickelt worden

Brisanter und vor allem höchst alarmierend sind aber einige Studien zur Akzeptanz von Massnahmen zur Energiewende. In der kühlen Sprache der Wissenschaft: «Verschiedene Forschungsprojekte (…) haben nachgewiesen, dass es noch nicht gelungen ist, ausreichend über die Vorteile neuer Technologien und Verhaltensweisen zu informieren. Das gilt nicht nur für Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für Entscheider in Politik und Wirtschaft. Die Kenntnis der generellen Funktionsweise und Wirkung, etwa einer Lenkungsabgabe, aber auch der persönlichen Vorteile, zum Beispiel in Form von mehr Lebensqualität und Komfort durch eine energetisch optimierte Wohnsituation, ist der Schlüssel dazu.»

Im Klartext: «20 Prozent der Bevölkerung wissen nicht, dass es ein Klimaproblem gibt», sagte der Luzerner Politikwissenschaftler Andreas Balthasar. Oder in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger auf die Frage, ob die Bevölkerung bei der Abstimmung über die Energiestrategie 2050 gar nicht richtig wusste, worüber sie eigentlich abstimmte: «Grundsätzlich wusste die Bevölkerung, dass es um den Ausstieg aus der Kernkraft und den Einstieg in ein umweltschonendes Energiesystem ging. Aber es mangelte am Wissen, wie man die Energiewende schafft. Nehmen wir zum Beispiel die Lenkungsabgabe. Vielen ist nicht bewusst, dass es sich dabei um eine Abgabe handelt, bei der alle jene Geld zurückerhalten, die Energie sparen. Die meisten gehen fälschlicherweise davon aus, es handle sich um eine Steuer, welche die Energie für alle verteuere.»

Auch ein Grossteil der Politiker weiss nicht recht Bescheid

Und noch schlimmer: «Der Grossteil des Parlaments weiss nur grob Bescheid über die vielen verschiedenen Geschäfte. Entscheidend für die Meinungsbildung ist die Arbeit der parlamentarischen Fachkommissionen, die wiederum von Lobbyisten beeinflusst werden. Grosse Skepsis herrscht gegenüber jenen Instrumenten, mit denen man keine oder kaum Erfahrung hat. (…) Mangelnde Kenntnis und Erfahrung machen Politikerinnen und Politiker, aber auch Unternehmen und die Bevölkerung risikoscheu.»

Natürlich kann man niemanden zwingen, sich für Klimapolitik zu interessieren. Aber erwarten könne man, so Balthasar, etwa von Verbänden, dass sie nach Abstimmungen «ihre staatstragende Rolle wahrnehmen und mithelfen, den Volksentscheid umzusetzen, statt ihn infrage zu stellen.» Unter den 15 Empfehlungen finden sich, so die NZZ auch klare Voten zu strengen Vorschriften etwa beim Einbau neuer Öl- und Gasheizungen und zu einer wirksamen Lenkungsabgabe oder CO2-Steuer auch auf Diesel und Benzin, zu einer Flugticketabgabe und der Vorschlag, die Bevölkerung früh aktiv in die Planung von Energieinfrastrukturen einzubeziehen, «Gemeinden, aber auch Bund und Kantone, sollen planerische und gesetzliche Vorarbeiten erbringen und zudem mit gezielter Regulierung besonders im Gebäudebereich und in der Mobilität die Energieeffizienz stärken.»

In ihren Empfehlungen, so die NZZ, setzen die Forscher auch sonst mehr auf Anreize als auf Subventionen. So legen sie den Energieverteilern nahe, dynamische Tarifmodelle zu entwickeln, die das Stromsparen belohnen. Bei besseren Bedingungen würden sich Privatpersonen auch vermehrt an Investitionen beteiligen, etwa in Energiegenossenschaften oder Quartierverbünden.»

Auch die Medien und die Politik müssen über die Bücher

Insgesamt bleiben die Empfehlungen aber seltsam harmlos, sie gehen nicht über das hinaus, was die Grünen und die SP seit längerem auch fordern. Ungeschoren kommen vor allem die Medien davon, die zwar seit einem Jahr ungewöhnlich viel über Klimafragen berichten, aber auf ihren Meinungs- und Diskussionsseiten, bei ihren Gastbeiträgen und in ihren redaktionellen Kommentaren (etwa zur Flugticketabgabe oder CO2-Genzwerten) eine eindeutige Schlagseite zugunsten der Bremser, Abwiegler und Klimaminimalisten zeigen. Dass diese Parteilichkeit unter dem Deckmantel der Ausgewogenheit die ohnehin schlecht informierten Leserinnen und Leser verwirrt und verunsichert, letztlich in die Politikabstinenz treibt, ist evident.

Ebenso ungeschoren kommt die Politik davon, auch die grün-roten Politiker inklusive der Energieministerin. Sie müssten sich doch fragen, ob sie mit ihrer kompromisslerischen Nachgiebigkeit, mit ihrem Mantra, man müsse die «Leute mitnehmen», man dürfe sie nicht überfordern, nicht mit dazu beitragen, dass die Bevölkerung glaubt, dass sich das Klimaproblem mit ein paar kleinen Korrekturen, einer kleinen Flugticketabgabe, ein paar Rappen höheren Spritpreisen und einer lächerlichen Einmal-«Busse» für die Überschreitung der CO2-Grenzwerte auf Neuwagen lösen lasse. Wer wird den Grünen und Sozialdemokraten in einigen Jahren noch glauben, wenn sie jetzt das zahnlose CO2-Gesetz unterstützen und kaum, dass es in Kraft getreten ist, dafür plädieren müssen, dass es (zugunsten der Gletscherinitiative) schleunigst wieder entsorgt wird? Die Klimajugend, das müsste doch zu denken geben, ist deshalb so glaubwürdig und erfolgreich, weil sie ohne Wenn und Aber, ohne Taktiererei, sagt, was sie meint und auch danach handelt. Sie kämpft eben nicht für die nächsten Wahlen oder einen Bundesratssitz, sondern weht sich für ihre Zukunft. Sie verwechselt Politik nicht mit Schachspielen.

Wir schaffen, sagen uns die Wissenschafter, die Energiewende, wir schaffen Netto Null bis 2050, wenn wir alle es wollen. Alle, das sind: Energieversorger, Haushalte, Betriebe, Hauseigentümer, Kapitalgeber, Verwaltungen, Verbände, die Politikerinnen und Politiker und die Stimmberechtigten.  Da, so darf man vermuten, haben einige noch Einiges zu tun, um zu beweisen, dass sie es wirklich und ohne Tricksereien wollen. (CR)