Der Klimanotstand ist das Eine, bei Weitem schlimmer aber ist offenbar ein anderer Notstand: das mangelnde Wissen über den Klimawandel und über das, was getan wird und getan werden müsste, um das 1,5-Grad- Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Und: Mitschuldig an dieser Misere sind Hetzer wie Andreas Kunz, Redaktionsleiter der SonntagsZeitung?

Es ist unfassbar: 20 Prozent der Bevölkerung, also jede und jeder Fünfte in der Schweiz, will nicht mitbekommen haben, dass die Welt ein Klimaproblem hat. Das ergab, wie wir berichtet haben, eine Studie im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Energie». Noch alarmierender aber ist, was laut Tages-Anzeiger eine noch unveröffentlichte repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GFS Zürich ergeben hat: Ein wesentlich grösserer Teil der Bevölkerung, nämlich je nach Frage zwischen fast 50 und 80(!) Prozent, hat kaum eine Ahnung, wie zum Beispiel eine Flugticketabgabe oder eine Lenkungsabgabe auf Benzin und Diesel funktionieren soll, was diese Massnahmen uns kosten werden und Ähnliches mehr.

Alle reden übers Klima, aber niemand hört hin

Und das, obwohl über diese Fragen seit über einem Jahr fast täglich diskutiert und geschrieben wird, in den Medien, in Radio und Fernsehen, in den Parteien, im National- und Ständerat. Obwohl in der Schweiz Zehntausende, weltweit Hunderttausende von jugendlichen Klimaaktivisten solche und weitergehende Massnahmen fordern. Obwohl diese Fragen eine ganze Wahl, die sogenannte «Klimawahl», befeuerten und beeinflussten. Und obwohl die grösste Partei der Schweiz eine Weile lang fast rund um die Uhr gegen die «grünen Teufel» hetzte, die «den Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen wollen».

«Das Ergebnis hat uns überrascht, denn die Diskussion über konkrete Klimaschutzmassnahmen wurde intensiv geführt», sagt Christian Zeyer, Geschäftsführer von Swisscleantech, welche die Studie in Auftrag gegeben hat. So wissen zwar vier von fünf Befragten, dass es auf Brennstoffe so etwas wie eine Lenkungsabgabe gibt, zwei Drittel meinen aber, dass auch Benzin und Diesel dieser Abgabe unterliegen würden. Und knapp die Hälfte der Befragten glaubt, dass das auch für Kerosin gelte. Letzteres sei besonders erstaunlich, meint Stefan Häne im Tages-Anzeiger, habe doch gerade die Debatte übers Fliegen und die fehlende Flugticketabgabe 2019 hohe Wellen geschlagen.

Mangelndes Klimawissen nützt der SVP

Man braucht kein Experte zu sein, um zu ahnen, dass dieser rudimentäre Wissensstand vor allem der SVP, der Auto- und Fluglobby nützt. Sie können in ihren Kampagnen gegen einen wirksamen Klimaschutz mit frei erfundenen Kostenrechnungen Stimmung machen und zum Beispiel behaupten, Normalfamilien würden unter der drohenden Abgabenlast von bis zu 3000 Franken pro Jahr zusammenbrechen, Der Zürcher Flughafen-Chef Stephan Widrig, und Swiss-Chef Thomas Klühr können den wirtschaftlichen Ruin der Schweiz prophezeien, und Andreas Burgener, der Direktor von Auto Schweiz, kann behaupten, eine CO2-Steuer auf SUV und 4×4 sei Ökodiktatur und bedrohe die Freiheit der Wahl.

«Angesichts des geringen Wissensstands», sagt Swiss Cleantech-Experte Zeyer, «fällt es leicht, die Bevölkerung mit falschen Aussagen zur Belastung durch Klimaabgaben zu verunsichern, wie dies zum Beispiel von der SVP gemacht wird.» An dieser Verunsicherung, das sagt Zeyer allerdings nicht, obwohl es unübersehbar ist, wirken aber auch die grossen Schweizer Tageszeitungen, vor allem die NZZ und der Tages-Anzeiger, fleissig mit.

Vermutlich mit einem Hinweis auf ihre Ausgewogenheit, bringt die NZZ auf jeden Text, der eine Flugticketabgabe oder eine Treibstoff-Lenkungsabgabe befürwortet, mindestens zwei, drei als Gastbeitrag getarnte Gegenartikel, so etwa neben den oben erwähnten Flug-Lobbyisten auch noch Lufthansa-Konzernchef Carsten Spohr und der Swiss-Manager Jean-Pierre Tappy. Auch für die Autoimporteure und Garagisten hat die NZZ immer ein offenes Ohr.

Besonders liebevoll pflegen die NZZ und NZZ am Sonntag aber vor allem auch die Freunde der Atomkraft. Nach Silvio Borner, Reiner Eichenberger, Bernhard Schips, Hans Rentsch, Bundeshauskorrespondent Michael Aebi, den Wissenschaftsredaktoren Andreas Hirstein und Werner Enz durfte kürzlich auch der ehemalige ETH-Präsident Lino Guzzella seine Liebe zur Atomkraft erklären, nachdem er, wie alle übrigen Atomfreunde auch, zuerst die vom Volk beschlossene Energiestrategie 2050 abgewatscht hatte. «Es wird Zeit für eine unbequeme Wahrheit: Das Ziel, Europa bis 2050 CO2-neutral zu machen, ist nicht realistisch.» Und: » Wenn wir es wirklich ernst meinen mit dem Klimaschutz, müssen wir Schluss machen mit den Denkverboten und ohne ideologische Scheuklappen über die Nutzung der Kernkraft diskutieren. Wer sich seriös mit realisierbaren Szenarien für ein Ende der Nutzung fossiler Brennstoffe beschäftigt, muss sich eingestehen, dass in Europa an der Kernenergie kein Weg vorbeiführen wird.»

Woher der Professor, der sich mit der sogenannten Thermomotronik, also mit Klimaanlagen in Autos, beschäftigt, die Gewissheit hat, dass die Klimawissenschafter an der ETH unseriöse Forschung betreiben, bleibt sein Geheimnis. Immerhin veranlasste seine faktenfreie, unqualifizierte Attacke gegen seine Kollegen den ETH-Klimaforscher Anthony Patt, Professor für Klimaschutz & -​anpassung, ein Experte, der sich eher mit dem Klima ausserhalb von Autos befasst, zu einer geharnischten Replik.

Es gebe keine wirtschaftlichen Gründe mehr, um auf Atomkraft zu setzen, schreibt Patt in seiner Entgegnung, da die Kosten für erneuerbare Energien und Energiespeicherung derart gesunken seien, dass es ist einfach kostengünstiger und ressourcenschonender sei, mit einer Kombination aus Sonne und Wind, ergänzt durch Batterie-, Wasser- und Wasserstoffspeicherung, zuverlässig Strom zu erzeugen. Überdies würden die Forschungsergebnisse zur Energiewende zeigen: «Wir haben die Technologien, die wir brauchen. Viele davon übertreffen die fossilen und nuklearen Energietechnologien in jeder Hinsicht. Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass Innovation zu Energie und Energiedienstleistungen führen wird, die kostengünstiger, sauberer und sicherer sind, als dies bei fossilen Brennstoffen oder der Atomkraft je der Fall war.»

Ein Hoch auf Trump

Einen Preis für Desinformation hat sich am vergangenen Wochenende auch der Redaktionsleiter der SonntagsZeitung Andreas Kunz wieder einmal verdient. Sein Kommentar mit dem unsäglichen Titel «Was die Welt von Donald Trump lernen kann» pöbelt einmal mehr gegen die «Klimaschützer», die überall die drohende Apokalypse wittern würden. «Das ist nicht mehr auszuhalten – und völlig kontraproduktiv.» Und dann: «Wie bei einer Fussballmannschaft, die es leid ist, ständig gesagt zu bekommen, wie schlecht es um sie steht, wie unfähig und unbelehrbar sie alle seien, mögen viele Menschen das ewige Lamento nicht mehr hören und flüchten, gleichgültig und müde, ins Private.» Nicht einmal als Fussballtrainer wäre Kunz zu gebrauchen , – welcher Trainer rät schon seiner Mannschaft, gleichgültig und müde zu werden? Ein Eigentor von Andreas Kunz.

Andreas Kunz, der bei Gelegenheit auch mal über den «naturgegebenen Egoismus» philosophiert, spielt den Zeremonienmeister auf der Titanic: Heissa, trallala! Noch nie sei es uns so gut gegangen wie heute, schreibt er: «Wohlstand und Lebenserwartung steigen, Gleichberechtigung und Menschenrechte sind weltweit auf dem Vormarsch; gleichzeitig gehen Krieg, Terror und Armut stetig zurück.» Andererseits werde momentan so viel kritisiert, gejammert und gewarnt wie kaum je zuvor. Und dann, man glaubt es kaum: «Der einzige Politiker, der Optimismus versprühen und Menschen bewegen kann, scheint derzeit Donald Trump zu sein. Seine Rede am WEF wirkte nach all dem Wehklagen seiner Vorredner geradezu erfrischend. Endlich einer, der an die Zukunft glaubt. Endlich einer, der voller Selbstbewusstsein und Entschlossenheit nach vorne blickt.» Man muss zur Frontseite zurückblättern, um sich zu vergewissern, dass man tatsächlich die SonntagsZeitung und nicht die Weltwoche in den Händen hält.

Meinungsäusserungsfreiheit heisst nicht, dass man jeden Schmarren abdrucken muss

Es sind gerade solche verantwortungslosen Texte von Leuten, die unter Meinungsfreiheit verstehen, dass man jede Dummheit auch unbedingt publik machen muss, die mitverantwortlich sind, dass immer mehr Menschen die Orientierung verlieren und nicht mehr wissen, ob sie Guzzella oder Patt, den Autoimporteuren oder den Wissenschaftern, Hinz oder Kunz glauben sollen. Keine Zeitung muss aus Gründen der Ausgewogenheit dutzendweise Gastbeiträge organisieren, die behaupten, die Welt sei ein Würfel und der Klimawandel eine Erfindung der Chinesen. Auch dann nicht, wenn es mächtige Leute und gute Inserenten sind, die das behaupten.

Die Wissenschaft, vom Weltklimarat über die Experten fast aller Umwelt- und Klimainstitutionen bis hin zu den Schweizer Klimaforschern des Berichts «Brennpunkt Klima Schweiz» oder den 300 Wissenschaftern des Nationalen Forschungsprogramms Energie, – sie alle sagen uns, dass wir nur noch ganz wenige Jahre Zeit haben, wenn wir den Klimawandel in halbwegs erträglichen Grenzen halten wollen. Und sie sagen uns, was zu tun ist, damit wir dieses Ziel erreichen. Dass Netto Null möglich sei, wenn wir nur wollen und ernst machen.

Und auch dies: Die Bevölkerung hat sich 2017 mit der Zustimmung zur Energiestrategie 2050 klar für die Ziele des Pariser Klimaabkommens (und gegen den Bau neuer AKW) entschieden. Jetzt geht es darum, dass alle verantwortungsbewussten Kräfte, Parteien, Parlamente, Wirtschaftsverbände und Branchen-Lobbyisten und vor allem auch die Medien, die grossen Tageszeitungen, alles daran setzen, dass dieser Entscheid der Bevölkerung auch umgesetzt werden kann. Dieser Entscheid heisst letztlich: Vollständige Dekarbonisierung, also Netto Null bis 2050. Ohne AKW und ohne fossile Energieträger. Zumindest die Meinungsmacher, die Chefredaktoren, die Wirtschafts- , Politik- und Wissenschafts-Redaktorinnen und -Redaktoren stehen in der Pflicht. Es ist eben nicht bloss die SVP, welche die Verunsicherung der Menschen ausnützt. Es sind – nicht nur, aber vor allem auch – die Medien, die diese Verunsicherung erst mit schaffen, die sie danach so wortreich beklagen. (CR)