Die Meldungen der letzten paar Tage sind dramatisch. Der Klimawandel macht sich nicht bloss bemerkbar, sondern ist in vollem Gang. Und es scheint, dass die Erderhitzung wesentlich schneller vor sich geht, als die Wissenschafter noch vor kurzem voraussagten. Was heisst das für die Schweiz? Für das CO2-Gesetz?

Fassen wir einige Katastrophenmeldungen der letzten Tage kurz zusammen:

  1. In der Schweiz», meldet die NZZ am Sonntag, liegen die durchschnittlichen Temperaturen in diesem Winter rund 3 Grad über dem langjährigen Mittelwert. Noch nie seit Messbeginn in der Schweiz im Jahr 1864 verlief die kalte Jahreszeit so mild wie in diesem Jahr.
  2. Auch in Europa war der Januar der wärmste seit Messbeginn – in manchen Regionen, von Norwegen über Russland bis Japan. betrugen die Abweichung vom langjährigen Durchschnitt sogar mehr als sechs Grad. In Westrussland gar 7,5 Grad. Noch mehr als die extrem hohen Temperaturen überrascht die Wissenschafter die rasante Geschwindigkeit der Erwärmung. Auch wenn einzelne Wetterereignisse noch kein Beweis für einen Klimawandel sind, so bestätigen diese Zahlen doch unmissverständlich langfristige Trends.
  3. Die Internationale Energieagentur (IEA) meldet zwar, dass die CO2-Emissionen aus der Verbrennung von Öl, Kohle und Gas im vergangenen Jahr nicht gestiegen, seien. Sie stagnierten bei 33 Milliarden Tonnen. Das bedeutet aber nicht, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre stagniert, sondern bloss, dass die CO2-Konzentration nicht mehr schneller, sondern nur im gleichen Mass ansteigt wie im Jahr zuvor. Dazu kommt: Nicht erfasst werden von der IEA die übrigen Treibhausgase wie etwa das extrem klimaschädliche Methan.
  4. Experten schätzen, dass die riesigen Waldbrände am Amazonas, in Sibirien und in Australien zusammen mehr als 500 Millionen Tonnen Kohlendioxid zusätzlich freigesetzt haben. Das entspricht in etwa der zehnfachen Menge CO2, welche die Schweiz jährlich emittiert.
  5. An der Nordspitze der Antarktis wurde am 9. Februar die Rekordtemperatur von 20,75 Grad gemessen. Das bedeutet, so der Klimaforscher Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), dass die Eisschmelze in der Antarktis und der damit zusammenhängende Anstieg des Meeresspiegels deutlich stärker ausfallen könnte als bisher erwartet, im schlimmsten Fall um bis zu 58 Zentimeter noch in diesem Jahrhundert. Berücksichtige man weitere Einflussfaktoren wie das schmelzende Eis in Grönland, die schmelzenden Gebirgsgletscher und die thermische Ausdehnung des Meerwasser, könnte der Meeresspiegel bis Ende des Jahrhundert gar bis zu 150 Zentimeter ansteigen.
  6. Neue Studien, schreibt die Forschungsstelle des renommierten deutschen Alfred-Wegener-Instituts (AWI), zeigen, dass grosse Teile der Permafrostböden viel schneller auftauen, als die Klimawissenschafter bisher annahmen. Tauen diese Permafrostböden auf, werden riesigen Mengen von CO2 und Methan freigesetzt. Um welche Mengen es dabei geht: Im Permafrost sind insgesamt rund 1,5 Billionen Tonnen Kohlenstoff gespeichert – etwa doppelt so viel, wie sich in der Atmosphäre befindet. Laut neusten Studien ist dieser Prozess bereits so weit vorangeschritten, wie der Weltklimarats IPCC  für das Jahr 2090 erwartete. Es könne also sein, dass der Zeitpunkt, ab dem das Auftauen kaum mehr gestoppt werden kann, bereits überschritten sei.
  7. Anfang Februar kommt ein Gutachten zu dem Schluss: Ein Drittel der Himalaya-Gletscher wird bis zum Ende des Jahrhunderts schmelzen. Selbst wenn derzeitige Anstrengungen, den Klimawandel einzudämmen, Erfolg zeigten, seien die Wasserquellen für 1,9 Milliarden Menschen bedroht..
  8. In der Frankfurter Rundschau beschreibt der renommierte Umweltjournalist Joachim Wille aufgrund aktueller Forschungsergebnis, welche Folgen das festgestellte Abflauen des Golfstrom-Systems für Nord- und Mitteleuropa haben könnte. Hält der Trend weiter an, so zitiert Wille den Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), könnte er die Wettermuster Europas fundamental verändern und zur massiven Häufung von Extremwetterlagen wie Orkane im Winter und Hitzewellen im Sommer führen.
  9. Vor einer Woche rief Uno-Generalsekretär António Guterres die internationale Gemeinschaft eindringlich zu entschlossenerem Handeln auf. «Unser Planet steht in Flammen, aber einige Entscheidungsträger spielen weiterhin ihre Spielchen.» Die einzige Antwort auf die fortschreitende Erderwärmung seien entschiedene Klimaschutzmassnahmen: «Schrittweise Ansätze reichen nicht mehr.»

Das Fazit: Aller Voraussicht nach sind die Folgen der Klimaerhitzung wesentlich grösser und erfolgt der Klimawandel wesentlich schneller als bisher angenommen. Das heisst: Die Politik muss nicht nur ihre Klimaziele, sondern in erster Linie ihre konkreten Klimaschutzmassnahmen sehr massiv und vor allem sehr viel schneller verschärfen als geplant, wenn das 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch erreicht werden soll. Das 1,5-Grad-Ziel ist nicht willkürlich gewählt worden; irgendwo zwischen 1,5 und 2 Grad ist der Punkt, wo die Erderhitzung unkontrollierbar wird.

Es liegt an den Kipp-Punkten

Ein wesentlicher Grund dafür sind die sogenannten Kipp-Punkte (tipping points). Das ist der Momente in einer scheinbar linearen Entwicklung, wo sich ein Zustand unumkehrbar verändert. (Etwa: Man kann einen Papiersack solange mit Glaswaren füllen, bis er zerreisst und die Gläser am Boden zerschellen.)

16 dieser Kippelemente haben die Klimawissenschafter identifiziert; so etwa das Schmelzen der Permafrostböden: Tauen diese Böden auf und entweicht das Methan und CO2 in die Atmosphäre, kann die Entwicklung nicht mehr rückgängig gemacht werden und kommen Kettenreaktionen in Gang, welche die Menschen nicht mehr beeinflussen können. Dasselbe gilt für das Abschmelzen der Eiskappen am Nord- und Südpol – das Wasser und die vom Eis befreiten Landmassen absorbieren mehr Wärme als das Eis und treiben so die Erderwärmung noch weiter an, eine nicht mehr zu kontrollierender Rückkoppelung

Eine Reihe führender Klimaforscher hat im November vorigen Jahres im renommierten Fachjournal Nature aufgezeigt, dass bei mehr als der Hälfte der 16 Tipping points das «Umlegen des Schalters» bereits gefährlich nah ist. Der Hauptautor des Kommentars, Timothy Lenton, warnte vor einer «planetaren Notsituation»; es liege, zitiert ihn die «Frankfurter Rundschau», womöglich schon nicht mehr ganz in unserer Hand, das Erdsystem vor einem Umkippen in einen neuen Zustand zu bewahren.

Die Forscher haben ausgerechnet, dass die Weltgemeinschaft nur noch rund 500 Milliarden Tonnen CO2 emittiert darf, wenn das 1,5 Grad-Ziel mit einer Chance von 50 Prozent eingehalten werden soll. Wenn der CO2-Ausstoss von jährlich 40 Milliarden Tonnen auf dem derzeitigen Niveau bliebe, wäre dieser «Vorrat» bereits in zwölf Jahren aufgebraucht. Entsprechend kürzer wäre diese Zeitspanne, wenn zusätzliche Emissionen etwa aus den Permasfrostböden oder der Entwaldung des Regenwaldes hinzukämen.

Niemand wird sagen können, er habe es nicht gewusst

In der kommenden Frühlingssession berät der Nationalrat über das CO2-Gesetz, das bis 2030 gelten soll. Fast alle, Wissenschafter, Experten, Umweltverbände, weite Teile der Bevölkerung, die Klimajugend und viele Politiker sind sich eigentlich im Klaren, dass sich mit den Massnahmen des CO2-Gesetzes das Pariser Klimaziel nicht erreichen lässt. Trotzdem soll das Gesetz in dieser untauglichen Version verabschiedet werden. Man könne ja, meinen von Simonetta Sommaruga über die halbherzig angegrünten Freisinnigen und CVP/Mitte-Politikerinnen und Politiker bis weit in die Reihe der Grünen und der SP, die Ziele irgendwann «nachschärfen». Aber: Wie die obigen Nachrichten und die Überlegungen der Klimaforscher zeigen, haben wir aller Wahrscheinlichkeit nach 2030 gar keine Zeit mehr, irgendetwas «nachzuschärfen». Der Nationalrat müsste also schon jetzt den Mut aufbringen, das was ohnehin kommen muss, nicht einen künftigen National- und Ständerat ausfressen zu lassen. Klar, in den Parlamenten kann man verhandeln, den mächtigen Wirtschaftsverbänden und Lobbyisten nachgeben, Kompromisse schmieden, und taktischen Spielchen spielen, aber: Mit den Naturgesetzen kann man keine Deals aushandeln, der Natur sind Wettbewerbsnachteile und Standortvorteile ziemlich egal; die Natur reagiert ohne Rücksicht auf zu teures Benzin, zu hohe Flugpreise und auf die pathologischen Probleme der SUV-Fahrer. Und wir müssen uns fragen, was uns eine prosperierende Wirtschaft bringt in einer Welt, die von Tag zu Tag mehr kollabiert.

Wenn die Gletscherinitiative, nach dem CO2-Gesetz die nächste Gelegenheit für eine Verschärfung der Klimaschutzmassnahmen, in drei, vier Jahren vielleicht zur Abstimmung gelangen wird, sind es dannzumal gerade noch einige ganz wenige Jahre, um alle schon heute möglichen und unausweichlichen Massnahmen umzusetzen und zugleich all das nachzuholen, was wir derzeit im vollen Bewusstsein versäumen. Dass dies dann zu sehr viel strengeren Regulierungen und Einschränkungen führen wird und auch sehr viel teurer wird, ist auch bereits heute klar. Und keiner, keine der heutigen Entscheidungsträger kann dann den Jugendlichen, seinen Kindern und Enkeln weismachen, er oder sie hätten es eben nicht gewusst. (CR)