Die Klimapolitik der Schweiz wird immer unübersichtlicher: Die Umweltministerin Simonetta Sommaruga, die für das CO2-Gesetz ist, weil es so harmlos ist, ist auch für die Gletscherinitiative, weil diese nicht so harmlos ist. Ihre bürgerlichen Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat sind irgendwie auch ein bisschen für die Gletscherinitiative, sind aber vor allem auch dagegen. Und die Grünen und die SP, die vermutlich für die Gletscherinitiative sind, sind auch für das CO2-Gesetz, obwohl sie eigentlich dagegen sind.
Die NZZ am Sonntag brachte heute (8. März) ein bisschen Licht oder wenigstens ein kleines Lichtlein ins Dunkel der schweizerischen Klimapolitik: Simonetta Sommaruga, so die Zeitung, habe an der vorletzten Bundesratssitzung beantragt, dass der Bundesrat sich hinter die Gletscherinitiative stelle. Sie sei aber bei ihren Kolleginnen und Kollegen abgeblitzt, obwohl diese das Ziel der Initiative, die Reduktion der Treibhausgasemissionen auf Netto Null bis 2050, eigentlich befürworten.
Was die bürgerlichen Bundesräte laut der NNZaS stört, ist der Absatz 3 der Gletscherinitiative. Er besagt, dass nach 2050 keine fossilen Brenn- und Treibstoffe wie Heizöl, Benzin, Diesel, Kerosin, Erdgas und Kohle mehr in Verkehr gebracht werden dürfen. Die Ausführungen von Simonetta Sommaruga zu diesem Punkt seien ungenügend gewesen, zitiert die Zeitung eine «involvierte Person».
Das Papier, das Sommaruga ihren Regierungskollegen zur Diskussion vorgelegt habe, lese sich streckenweise wie ein Argumentarium für die Gletscherinitiative, schreibt die NZZaS, die das Papier offenbar kennt und daraus so grünradikale Sätze zitiert wie: «2019 war nach 2016 das weltweit zweitwärmste Jahr». Oder: «Die Auswirkungen des Klimawandels werden entsprechend für die Bevölkerung – mit dem sinnbildlichen Schwinden der Gletscher, zunehmenden Hitzewellen, heftigen Niederschlägen und Bergstürzen – immer spürbarer.» Dass solche Sätze, auch wenn sie nicht sonderlich elegant formuliert sind, wie ein Argumentarium für die Gletscherinitiative klingen, kommt vermutlich daher, dass die Bundesrätin ihre «Gschpänli» von der Notwendigkeit der Gletscherinitiative und nicht vom Gegenteil überzeugen wollte. Auch dass sie darauf hinwies, dass sich die Schweiz mit der Unterzeichnung des Klimaabkommens von Paris verpflichtet habe, ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 zu halbieren, kann nur für Leute mit schweren Erinnerungslücken eine Überraschung sein .
Bundesratsmehrheit gegen die Gletscherinitiative
Interessanter ist jedoch die Kritik der beiden SVP-Bundesräte Ueli Maurer und Guy Parmelin. Sie kritisierten nicht nur das grundsätzliche Verbot fossiler Energieträger, wie Maurers Generalsekretariat laut NZZaS monierte, sondern auch, dass der «Ausgleich gewisser CO2-Emissionen zwingend im Inland erfolgen» müsse. Dass auch die klimawirksamen Emissionen der internationalen Luftfahrt einbezogen würden. Und: Aussenminister Ignazio Cassis soll laut NZZaS auf etwas hingewiesen haben, was er «Technologieverbot» nennt: Er meint damit offenbar, dass die Gletscherinitiative verhindere, dass bis 2050 möglicherweise neue technische Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel entwickelt werden könnten. Dumm bloss, dass im Initiativtext nichts von Cassis› Technologieverbot steht und ein solches auch nicht beabsichtigt ist. Insgesamt klingen alle diese Einwände in den Ohren Aussenstehender und Nicht-Bundesräte seltsamerweise wie ein Argumentarium des Gewerbeverbandes, der Wirtschaftsverbände und der Fluglobby.
Es droht das grosse klimapolitische Tohuwabohu
Die Umweltministerin muss nach dieser Niederlage also noch einmal über die Bücher, schreibt die NZZ am Sonntag. Sie soll laut mehreren Quellen bald Varianten für einen indirekten Gegenvorschlag auf Gesetzesebene oder einen direkten Gegenvorschlag auf Verfassungsstufe vorlegen. Das ganze Prozedere im Bundesrat mit Vernehmlassung, deren Auswertung und den sogenannten Ämterkonsultationen wird voraussichtlich etwas mehr als ein Jahr dauern, also bis Anfang 2021.
Da die Schweiz zuhanden des Weltklimagipfels im November 2020 einen neuen, verschärften Massnahmenkatalog bekanntgeben muss, werden während des Abstimmungskampfes um das CO2-Gesetz (Ende 2020 oder Anfang 2021) mehrere weitere Entwürfe, unterschiedliche Konzepte und Massnahmenkataloge für 2030 und 2050 auf dem Tisch liegen. Und alle Parteien, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, NGOs und Lobbyisten werden bei jedem dieser Konzepte jeweils dafür, ein bisschen dafür, ein bisschen oder ganz dagegen sein.
Ob die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger da noch den kühlen Durchblick bewahren können (oder wollen), ob sie bei all diesem Tohuwabohu noch mitmachen oder verunsichert resignieren und einfach denjenigen folgen, die ihnen das billigste, einfachste, für ihr Alltagsleben folgenloseste und blauste Blau des Himmels versprechen, wissen wir nicht.
Plädoyer für einen grossen Klimagipfel
Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, jenen grossen Klimagipfel zu organisieren, den die Grünen-Chefin Regula Rytz nach den Wahlen im Oktober vorgeschlagen hat, den Experten wie Reto Knutti heftig befürwortet haben, der dann aber wie viele andere kluge Ideen lautlos entsorgt worden ist. Es handle sich, sagte Rytz damals, um ein «informelles Treffen ausserhalb von normalen Traktandenlisten und Kommissionsentscheiden, das Raum lässt für grundsätzliche Diskussionen». Es wäre eine Möglichkeit, dass Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft sich auf Augenhöhe und ohne vorgegebenes Übermachtverhältnis von Wirtschaft und Politik treffen und miteinander diskutieren, wie man nicht gegeneinander, sondern gemeinsam zu Lösungen für eines der dringlichsten, aber auch schwierigsten Probleme in den kommenden Jahrzehnten kommt. Ziel wäre ein kontingentes Konzept, welches das CO2-Gesetz (neu unter Einschluss auch der Landwirtschaft), das Energiegesetz und die Gletscherinitiative umfasst, das mit klar festgelegten Mechanismen und Zwischenschritten aufzeigt, wie die Schweiz ihr Klimaziel 2050 erreichen will und wie sie die übrigen klimapolitischen Elemente wie Klimafonds, Ausbau der Erneuerbaren, internationale Zusammenarbeit etc. ausgestalten und organisieren will. Ein solches in sich schlüssiges Konzept, das Gewähr bietet, dass das Ziel nicht nur proklamiert und angestrebt wird, sondern auch tatsächlich erreicht wird, hätte vermutlich auch die besten Chancen, dass es von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern mitgetragen wird, selbst wenn die Kosten beträchtlich höher sein werden als viele Politiker das heute aus «Angst vor dem Volk» zu sagen wagen. (CR)