Alle zwei, drei Wochen überrascht uns Eric Gujer, der Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, mit einer neuen Denksportaufgabe. Die Frage zu seinen samstäglichen Leitartikeln lautet immer gleich: Was wollte uns Herr Gujer eigentlich sagen? Es gibt aber, zumal bei der NZZ am Sonntag, durchaus auch Autoren, die kein ideologisches Brett vor dem Kopf haben und argumentieren statt Stammtischweisheiten zu kolportieren.

Eric Gujers Denksportaufgaben sind immer knifflig. Denn seine Argumentation oder das, was er dafür hält, schleudert hin und her zwischen so schwierigen Fragen wie diejenige, was denn ein Seuchen-Sozialismus sei, und der noch viel schwierigeren Frage, was Kants kategorischer Imperativ in einem Tattoo-Studio zu suchen hat. Wobei man vermuten muss, dass Herr Gujer, an dem gewiss kein philosophischer Grossmeister verloren gegangen ist, ohne allzu viel theoretische Vernunft durch Kants Hauptwerk «Kritik der praktischen Vernunft» gesurft ist oder den beeindruckenden Begriff einfach aus einem beliebigen Zitatenbüchlein abgeschrieben hat.

Gegen Seuchen-Sozialismus und für einen Freiheitsmuskel

Irgendwie, so scheint es, möchte Gujer, dass dieser verfluchte «Seuchen-Sozialismus», den uns der «Gesundheitsminister in Feldherrenpose» aufgezwungen hat, so schnell wie möglich wieder verschwindet, damit der Markt, dessen unsichtbare Hand alles so wunderbar regelt, dass der ungeliebte Staat alle paar Jahre die halbe Banken- und Wirtschaftswelt retten muss, möglichst subito wieder seine segensreiche Wirkung entfalten kann. Das ist zwar nicht Kant, sondern Adam Smith, dem neben einigen klugen Dingen auch dieser unglückliche Satz über die unsichtbare Hand herausgerutscht ist. Aber auch grosse Leute dürfen einmal einen Fehler machen, dumm ist bloss, wenn die weniger grossen Leute das noch 200 Jahre später nicht gemerkt haben und den Unsinn über Generationen gegen alle Evidenz weiter nachbeten.

Ein weiterer Fund aus einem Zitatenbrevier ist Gujers kleiner Exkurs zu Kants «unsterblicher Definition» der Aufklärung als «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit». Gujer versteht dies primär als Aufforderung zu mehr Fitness. «Muskeln, die nicht regelmässig gebraucht werden, bilden sich zurück», schreibt er und erfindet dazu eine schon fast nobelpreisverdächtige Entdeckung, den «Freiheitsmuskel», der jetzt im Home-Office zu verkümmern drohe. Er benutzt Kants Diktum als Kampfbegriff gegen das derzeitige Ausnahmerecht und Notstandsregime. «Wer darauf pocht, dass dies ein Ende hat, damit die Gesellschaft selbst den Exit aus dem Lockdown findet, ist kein Drängler und kein Querulant. Er sucht nur den Ausgang aus der Unmündigkeit.» Finden wird er ihn auf diese Weise kaum. Gujer hat Glück, dass Kant (1724 bis 1804) selber sich nicht mehr gegen diesen Missbrauch wehren kann. Denn vermutlich hätte Kants gut trainierter Kopfmuskel durchaus akzeptiert, dass es Situationen gibt, in denen Mündigkeit sich darin zeigt, dass man Notwendigkeiten akzeptiert, auch wenn der Wirtschaft-Bizeps im Home-Office zu verkümmern droht. Kleiner Tipp für Gujers Zitatensammlung: Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, heisst es in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts: «Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen», heisst es da, «liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen.“

Gegen das populistische Wissenschafts-Bashing

Fast wie eine direkte Antwort auf Gujers skurrile Begründung, warum es jetzt höchste Zeit sei, den Forderungen der Wirtschaft Folge zu leisten, liest sich ein brillanter Meinungsartikel von Andreas Hirstein, dem Wissenschaftsredaktor der NZZ am Sonntag. Der Text betrifft zwar auch nicht die Klima-, sondern die Corona-Debatte, die Argumente aber treffen durchaus auf beide zu.

Hirstein wendet sich unmissverständlich gegen die hektische Drängelei, wider alle Ratschläge der Wissenschaft lieber heute als morgen eine «neue Normalität» zu erzwingen. Nach einigen Wochen, in denen der Bundesrat weitgehend auf die Wissenschafter hörte, hätten jetzt offensichtlich die Wirtschaftslobbyisten überhand genommen. «Durchgesetzt hat sich damit das Narrativ vom Wissenschafter im Elfenbeinturm, der sich um wirtschaftliche und soziale Kosten seiner Theorien nicht schert. Ein Krisengewinnler, der in Talkshows herumsitzt, statt im Labor zu stehen. Noch ist die Wissenschaft zwar nicht marginalisiert. Die Stimmen vieler Fachdisziplinen fliessen durchaus in politische Entscheide ein. Zweifellos aber haben andere Interessengruppen an Bedeutung gewonnen.»

Und: «Was den Klimaforschern nie gelang, schienen die Virologen zu schaffen: die Lufthoheit über den Stammtischen zu erringen. Doch der Sieg der Vernunft währte nicht lange – paradoxerweise weil die Politik so erfolgreich war und die Infektionszahlen so weit gesunken sind, dass die Epidemie in der Schweiz nun beherrschbar erscheint. Folglich heisst es jetzt: Das Virus ist doch nicht so gefährlich, die Therapie war schlimmer als die Krankheit.»

«In der Realität hat die Wissenschaft zu wenig Einfluss»

Zum Verhältnis von Corona- und Klimadebatte hat sich im Beobachter vom 8. Mai auch der ETH-Klimaforscher Reto Knutti in einem lesenswerten Interview geäussert. Zwar würden «die Klimaexperten ziemlich ernst genommen, solange sie neutrale Berichte erstellen, zum Beispiel die regelmässigen Uno-Berichte des IPCC.» Und es mangle ja auch nicht an Forschungsergebnissen. Zudem gebe es seit 1996 (also seit 24 vergeblichen Jahren!) ein vom Departement für Umwelt eingesetztes beratendes Organ für Fragen der Klimaänderung, das so genannte OcCC (Organe consultatif sur les changements climatiques). «In der Realität aber», so Knutti, » hat es zu wenig Einfluss. Ein intensiverer Austausch zwischen Politik und Wissenschaftlern ist dringend nötig, wenn wir etwas erreichen wollen. Ich denke dabei nicht nur an Klimaforscher, sondern auch an Ökonomen, Technologen und Sozialwissenschaftler.» Und schliesslich: «Es gibt in der Politik wenig Einigkeit darüber, wie schlimm der Klimawandel überhaupt ist, was dagegen zu unternehmen ist und wer wie viel an eine Lösung bezahlen soll.» Diese Einigkeit fehlt leider auch bei den Schweizer Medien, wo die Wissenschaftsredaktoren an einem Tag den Klimawandel samt Ursachen sorgfältig analysieren und am nächsten Tag ein Wirtschafts- oder Chefredaktor ihnen die lange Nase zeigt.

Beginnen die Grünen sich zu wehren?

Über das CO2-Gesetz wird im Juni im Nationalrat debattiert werden. Die Grünen ärgerten sich blau ob dem Verhalten der bürgerlichen Parteien (mitsamt der sanft ergrünten Gössi-Noser-FDP) in der Debatte um das Rettungspaket. Und so schreiben sie in einem Aufruf an ihre Mitglieder und Sympathisanten: » Damit wir die Verbesserung des Gesetzes erreichen können, sind wir auch auf dich, auf den Druck der Klimaschützer*innen, angewiesen.» Da machen wir ja durchaus mit. Allerdings wüssten wir auch gern, was das konkret bedeutet. Rücken die Grünen endlich von ihrer fatalen Meinung ab, man solle den vorliegenden und – wie sie selber bestätigen – untauglichen Entwurf durchwinken und irgendwann später «nachschärfen»? Wollen sie neuerdings bereits im Juni für eine klare Verschärfung, für ein wirksames CO2-Gesetz kämpfen, mit dem sich die Pariser Klimaziele auch tatsächlich erreichen lassen? Und wenn, was soll denn wie verschärft werden? Trotz mehrerer Anfragen hat klimanews.ch bis jetzt von den Grünen noch keine Antwort bekommen. Und die SP? Ist nach der Debatte um die Rettung von Swiss und Edelweiss ziemlich schweigsam geworden. (CR)