Es hätte ein grosser Wurf werden sollen: Mit einem ambitiösen «European Green Deal» wollte Ursula von der Leyen, die neue Kommissionspräsidentin der Europäischen Union, Europa bis im Jahr 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt machen. Dann kam die Corona-Krise und alles war plötzlich ganz anders. Der «Green Deal» verschwand aus den Schlagzeilen. Was ist von ihm geblieben? Eine Übersicht.

Gerade mal elf Tage nach ihrem Amtsantritt am 1. Dezember 2019 verkündete Ursula von der Leyen eines der ambitioniertesten und umstrittensten Projekte in der Geschichte der EU: Ein «European Green Deal» solle nicht bloss dafür sorgen, dass die EU, immerhin die drittgrösste Wirtschaftsmacht der Welt, bis 2050 klimaneutral wird, sondern zugleich den ins Stocken geratenen internationalen Klimaverhandlungen einen neuen Kick geben. «Der Wandel muss sofort beginnen», meinte sie damals, und: «Wir wissen, dass wir es schaffen können!»

Eine umfassende Roadmap zu einem umweltfreundlichen Europa

Nach den Vorstellungen von der Leyens sollte der European Green Deal nicht bloss ein Klimagesetz werden, sondern eine umfassende Roadmap zu einem umweltfreundlichen, nachhaltigen Europa. Der Entwurf beinhaltet ingesamt 47 Projekte und Vorhaben in den Bereichen Verkehr, Industrie und Emissionshandel, Infrastruktur, Energie, Landwirtschaft und Gebäudesanierung, Biodiversität, Klimagerechtigkeit, Forschung und anderes mehr. Neben Reduktionszielen bei den Treibhausgasen sollte es um umweltfreundliche Verkehrsmittel, nachhaltige Nahrungsmittelproduktion, um eine neue EU-Forststrategie, Vorschläge zur Förderung einer CO2- freien Stahlerzeugung, um Kreislaufwirtschaft und Weiteres gehen. Und mit einem»Just Transition Fund» von 100 Milliarden sollten jenen osteuropäischen Ländern wie Polen geholfen werden, die durch das Ende des Kohlebergbaus besonders schwer betroffen sein werden.

Als wichtigstes Zwischenziel sah der Green Deal vor, bis 2030 die Treibhausgase um 50 bis 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Unter ihrem Vorgänger Jean-Claude Junker war lediglich ein Minus von 40 Prozent geplant. Mit einem schärferen Klimaziel für 2030, so die neue EU-Kommission, sei es leichter möglich und langfristig kostengünstiger, bis 2050 die angestrebte Klimaneutralität auch wirklich zu erreichen.

Wie sollte der Green Deal finanziert werden

Insgesamt rechnete die EU-Kommission mit Investitionen im Umfang von rund 1 Billion Euro bis 2030. Finanziert werden sollte diese Billion aus drei Quellen,

  • dem ordentlichen EU-Haushalt. Rund 500 Milliarden, also fast die Hälfte des ordentlichen EU-Haushalts sollten «zur Verwirklichung der Klimaziele beitragen»; dazu zählen allerdings viele bereits bestehende Programme (etwa im Bereich Landwirtschaft oder Infrastruktur), die einfach neue «grüne» Zielsetzungen bekommen. Andererseits sollte der langfristige EU-Haushalt – gerechnet wird in Perioden von sieben Jahren, derzeit geht es um die Jahre 2021 bis 2027 – aufgestockt werden, von 1 Prozent des Bruttonationaleinkomens aller 27 EU-Staaten auf 1,3 Prozent. Was mehrere Staaten, darunter das Schwergewicht Deutschland, klar ablehnten.
  • durch die Europäische Investitionsbank (EIB) im Umfang von rund 250 Milliarden; die Bank würde dadurch zur eigentlichen Klimabank der EU: Sie vergibt Darlehen an Unternehmen, oft gemeinsam mit anderen Banken und privaten Investoren. Schon heute dient jedes vierte von der EIB (mit)finanzierte Projekt dem Klimaschutz, ab 2025 sollte es jedes zweite sein. Zudem sollten neu alle Projekte darauf geprüft werdent, ob sie zumindest nicht klimaschädlich sind.
  • durch zusätzliche Beiträge der Mitgliedstaaten von rund 114 Milliarden Euro.

Überdies sollte der bereits bestehende euroweite Handel mit Emissionszertifikaten ausgeweitet werden.

Ein beträchtlicher Teil dieser Billion war vor allem gedacht als sogenannter «Hebel», also als Förderbeitrag, Subvention, rückzahlbarer Kredit und Garantie. So sollen weit grössere private Investitionen ausgelöst werden als die von der Bank zur Verfügung gestellten Beträge.

Welchen Anteil die im ordentlichen Haushalt bereits eingeplanten, bloss «umetikettierten» Programme ausmachen, wie viele Milliarden irgendwann als Garantien für gescheiterte Projekte fällig werden, oder andersrum, wie hoch die Mehrkosten letztlich tatsächlich ausfallen würden, lässt sich aus den vorhandenen Unterlagen der EU-Kommission kaum verlässlich berechnen.

Wohlwollende Experten waren aber überzeugt, dass die effektiven Zusatzkosten bloss einen Bruchteil dieser Billion ausmachen. Kritiker aber wie Christoph G. Schmutz, der EU-Korrespondent der NZZ, spöttelten hämisch, der Green Deal erinnere an «die wundersame Brotvermehrung aus dem Neuen Testament». Schmutz & Co. qualifizierten sich mit solchen lockeren Sprüchen als demagogische Zyniker, die ihr Publikum immer noch Glauben machen wollen, die Klimakrise sei allenfalls ein Thema für Kabarettisten oder die Basler Fasnacht.

Aber selbst wer den Green Deal ernster nahm als die Spässchenmacher der NZZ, musste nicht in Panik geraten. Selbst wenn man die grösstmöglichen Kosten des Green Deals annimmt, sind die 1000 Milliarden nicht grösser als all die klimaschädlichen Subventionen, mit denen die EU und ihre Mitgliedstaaten derzeit die Landwirtschaft, die Autoindustrie, die fossilen und atomaren Energieversorger sowie mehrere CO2-intensiven Branchen wie die Zement- und Stahlindustrie fördern. Jene Subventionen also, welche nach dem Willen der EU-Kommission so schnell wie möglich abgebaut oder eben klimafreundlich «umfunktioniert» werden sollen. Und schon fast bescheiden nimmt sich die Billion aus, wenn man sie gegenrechnet mit den künftigen Milliardenverlusten nach Dürren und Überschwemmungen, mit den unvermeidbaren Massnahmen zum Schutz der Küsten, gegen den Gletscherschwund, dem Verlust an Biodiversität, für die Gesundheitsvorsorge und andere klimabedingte Schäden und Vorsorgemassnahmen.

Der Green Deal als Wachstumsstrategie für Europa

Fast noch wichtiger als die vielen, mehr oder auch weniger konkreten Einzelvorhaben war aber die von Ursula von der Leyen vehement vertretene Kernbotschaft: der European Green Deal sollte weder ein moralisches Weltrettungsprogramm sein noch der enorme Preis für eine künftige Verzichtswirtschaft, sondern im Gegenteil eine optimistische wirtschaftliche Wachstumsstrategie für Europa und den ganzen Welthandel: es sollte um Chancen, um neue innovative Technologien, um Zukunfts- und neue Arbeitsmärkte gehen. Das Motto des Green Deals hiess: Emissionen senken, Arbeitsplätze schaffen und Lebensqualität verbessern.

Wie in solchen Fällen üblich, kam der Entwurf, kaum war er veröffentlicht, von allen Seiten unter Beschuss. Während er den meisten EU-Grünen, den Umwelt- und Naturschutzverbänden und der Klimajugend zu viele vage Versprechungen enthielt und zu wenig weit ging, drohten die Wirtschaftsverbände und -lobbyisten und ihre parlamentarischen Hilfskräfte in den rechtsbürgerlich-konservativen Parteien mit dem Untergang der europäischen Wirtschaft oder warnten wie der CSU-Europarlamentarier Markus Ferber vor einer «Klimadiktatur». Oder sie kolportierten das Schauermärchen vom Staatssozialismus, der die Freiheit und die Marktwirtschaft abwürge. (Dass sie zwei, drei Monate später selber Hunderte von Milliarden Euro an «Staatsknete» abholten, gehört zu den kleinen Widersprüchen, mit denen die marktliberalen Freiheitskämpfer immer gut leben können, solange sie selber Nutzniesser dieser «staatssozialistischen» Rettungsmassnahmen sind.)

Wie immer: Es geht nicht ums Klima, sondern ums Geld

Dann trieb die Corona-Pandemie (und eine Reihe weiterer handels- und finanzpolitischer Probleme) die Weltwirtschaft noch tiefer in die schon seit 12 Jahren andauernde Krise; der European Green Deal verschwand, noch bevor die EU-Mitgliederländer ernsthaft darüber verhandeln konnten, aus den Schlagzeilen und Traktanden der EU-Kommission.

Nachdem einzelne Länder wie Deutschland milliardenschwere Rettungsprogramme auf den Weg gebracht haben, verlagerte sich das habgierige Feilschen um Direktzuschüsse und Darlehen auf die EU-Ebene. Unternehmen, die jahrelang Riesengewinne eingefahren, Millionendividenden und Boni verteilt haben, und – wie etwa die Deutsche Autoindustrie – ohne Wimpernzucken Milliarden Euro an Strafzahlungen für ihre kriminellen Machenschaften bezahlen konnten, waren plötzlich am Verlumpen und erpressten die Politik mit der Drohung massenhafter Entlassungen.

In einem Schnellverfahren stellte die EU-Kommission einen Rettungsplan über 1.8 Billionen Euro zusammen, der nach einem Marathon-Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 21. Juli genehmigt wurde. (Das 67seitige, für Laien kaum entzifferbare Dokument, das all die nächtelangen Streitereien, Kämpfe um kleinste Details und das Ringen um Formelkompromisse erahnen lässt, muss allerdings noch vom EU-Parlament und allen 27 Parlamenten der Mitgliedsländer abgesegnet werden.)

Finanziert werden soll das riesige Aufbauprogramm zum einen im Rahmen des siebenjährigen Finanzrahmens, also über den ordentlichen EU-Haushalt (1.1 Billionen) und einem Aufbaufonds «Next Generation EU» in der Höhe von 750 Milliarden. Zusammen mit einem bereits etwas früher beschlossenen Hilfspaket von 540 Milliarden stellte die EU also satte 2.4 Billionen bereit, um der Wirtschaft nach der Corona-Krise wieder auf die Beine zu helfen.

Der Aufbaufonds wiederum soll durch die Ausweitung des Emissionshandelssystems (ETS) auf den Flugverkehr und die Schifffahrt, durch neuartige Zölle auf CO2-Importe, zusätzliche Steuern für grosse Unternehmen und Internetkonzerne finanziert werden. Da dies aber bei weitem nicht reicht, um die zusätzlichen Kosten zu finanziere , machten die Regierungs- und Staatschef an ihrem Gipfel weitreichende Abstriche an den Massnahmen zum Klimaschutz, am Green Deal..

«Wir wollen die grosse Aufgaben des Klimawandels nicht vergessen»

Zwar versicherte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel: «Wir wollen die grosse Aufgaben des Klimawandels nicht etwa vergessen», und Ursula von der Leyen doppelte nach, dass sich an den «grünen» Zielsetzungen der EU nicht das Geringste ändere, ja der künftige EU-Haushalt ganz klar an das ambitiöse Klimaziel gekoppelt bleibe. Die puren Fakten zeigen doch ein etwas anderes Bild. «Die Einigung geht klar auf Kosten des Klimaschutzes», meinte der grüne Europaabgeordnete Michael Bloss. Und er zählt auf: Das Programm für Zukunftsinvestitionen wird um 30 Milliarden Euro auf nur noch 5.6 Milliarden zusammengestrichen, der «Just Transition Fund», der die betroffenen Kohleregionen unterstützen soll, schrumpft von 40 auf zehn Milliarden Euro, das Forschungsprogramm «Horizon», mit dessen Hilfe eine europäische Wasserstoffwirtschaft aufgebaut werden sollte, bekommt nur noch 5 statt 13,5 Milliarden Euro, ein Förderprojekt für CO2-freie Produktion von Stahl und andere kleine Klimaschutzprojekte werden ganz gekappt. Die genaue Grösse dieser «Sparübung» lässt sich ebenfalls kaum eruieren, weil viele Projekte insbesondere in der Landwirtschaft oder bei der Gebäudesanierung in der jetzigen Form sehr vage formuliert sind oder durch die «Umetikettierung» nicht mehr als nachhaltig» gezählt werden kann.

Am Ziel, dass der Anteil der Klimaschutzinvestitionen über alle Einzelbudgets des sogenannten Recovery Funds von 25 auf 30 Prozent erhöht werden soll, will die EU-Kommission festhalten – sie delegiert diese Aufgabe allerdings an die einzelnen Mitgliedsländer und interpretiert die Forderung als blosse Empfehlung: Die einzelnen Länder müssen Pläne mit förderungswürdigen Projekten einreichen, die Kommission prüft dann, ob diese das Land und die EU voranbringen. Der Interpretationsspielraum ist hier beträchtlich.

Viele dieser Vorhaben sind umstritten, weil sich fast alle Mitgliederländer irgendwie benachteiligt fühlen, die einen wie Deutschland und die sogenannten «Sparsamen Vier» (Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden), weil sie zu viel bezahlen müssten, die anderen, vor allem Polen, Tschechien und Griechenland, weil sie ihrer Meinung nach zu wenig Unterstützungsgelder aus dem abgespeckten Just Transition Fund bekommen.

Widerstand ist angesagt

Wenig Freude an den Kürzungen haben begreiflicherweise und zu Recht nicht nur viele Umwelt-NGOs, etwa das Europäische Umweltbüro (EEB), sondern auch Klima- und Umweltwissenschafter etwa vom Klimaforschungsinstitut Mercator Research Institute On Global Commons und Climate Chance (MCC), das Beratungsbüro Climact oder der renommierte deutsche Thinktank Agora Energiewende. Aber auch die Klimabewegung um Fridays for Future reagierten empört. In einem Brief an die Staats- und Regierungschef der EU, der von 80’000 Menschen, darunter vielen Wissenschaftern unterschrieben wurde, heisst es: «Es wird immer klarer, dass die Klimakrise gar nie als wirkliche Krise verstanden wurde, weder von den Politikern, den Medien, der Wirtschaft noch der Finanzbranche. Je länger wir so tun, als befänden wir uns auf einem guten Weg zu immer geringeren Emissionen und als seien die notwendigen Massnahmen zur Vermeidung einer Klimakatastrophe vorhanden und eingeleitet, umso mehr Zeit werden wir verlieren.»

Man darf sich nicht wundern, wenn immer grössere Teile der Klimabewegung das Vertrauen in die Politik, auch in die grünen und linken Politikerinnen und Politiker verliert, wenn sie sich nicht mehr andauernd hinhalten und vertrösten lassen, weil immer wieder etwas vermeintlich noch Wichtigeres dazwischen kommt. Wenn sie sich vom Parlamentarismus angewidert abwenden und nur noch auf ihre eigene Kraft auf der Strasse vertrauen, ohne die das Klima schon wie bisher allenfalls ein Thema für Sonntagsreden und Neujahrsansprachen abgab. (CR)