Ab dem kommenden Freitag (4. September) wird die Klimabewegung sich wieder laut und heftig auf den Strassen und Plätzen bemerkbar machen, weil die Klimakrise vor lauter Corona fast in Vergessenheit geraten ist. Doch ihr Protest wird kompromisslose, radikaler sein als bisher. Ihre neue Strategie heisst Ziviler Ungehorsam. Muss das sein? Die Antwort lautet: Ja, es muss!
Zur Erinnerung für all jene, die in den kommenden Tagen und Wochen wieder über die Klimastreikbewegung herziehen werden: In der jüngeren Geschichte wurden fast alle gesellschaftlichen Umwälzungen durch zivilen Ungehorsam sozialer Bewegungen angestossen und vorangetrieben – in demokratischen Systemen gleichermassen wie in autoritären. Die Bürgerrechts- und Apartheidsbewegungen der 1960er Jahre, der Prager Frühling 1968 und die Anti-AKW-Bewegung, die Montags-Demonstrationen in der DDR, die weltweite Lesben- und Schwulenbewegung, der Arabische Frühling, der derzeitige Aufstand der belorussischen Bevölkerung gegen Lukaschenkos Diktatur, die Hongkonger gegen die Vereinnahmung durch China und die «Black Lives Matter»-Bewegung in den USA. Oder, im kleinen Rahmen von Zürich, der Globus- und Opernhaus-Krawall, denen wir die Belebung des Zürcher Kulturlebens zu verdanken haben.
Viele dieser Bewegungen wehrten sich nicht aus «Sehnsucht nach Umsturz», wie die Tamedia-Redaktorin Michèle Binswanger * (Nachtrag, siehe unten ), eine unbedarfte Plaudertasche, zusammenfantasiert, sondern aus purer Not, weil ihre Menschenwürde verletzt wurde, weil sie unterdrückt, diskriminiert, wurden. Oder, ja auch das, weil ihre berechtigten Anliegen überhört und ignoriert wurden.
Die Parteien stehen am Strassenrand und warten ab
Kurz: Wir verdanken dem Zivilen Ungehorsam nebst einigen tragischen Fällen in Diktaturen eine ganze Reihe gesellschaftlicher Fortschritte. Keine dieser Protestbewegungen wäre ohne zivilen Ungehorsam erfolgreich gewesen oder hätte mindestens eine breite Öffentlichkeit auf ein brennendes Problem aufmerksam machen können. Andererseits: Kaum je gingen solche Impulse von Parteien aus, welche doch das Volk repräsentieren sollten. Im Gegenteil: Meist standen die Parteien lange, oft allzu lange abwartend am Strassenrand oder bremsten gar den Elan des Protests; meist mahnten sie im Chor mit den Medien zur «Besonnenheit», was immer auch hiess: Lasst uns Profis ran, wir werden es schon richten! Um dann die Forderungen der Bewegungen in Kommissionen endlos zu zerreden und zu verzögern, in langen Kaskaden von opportunistischer Kungelei und Kompromisslerei so herunterzukühlen, dass zuletzt kaum mehr zu erkennen war, worum es eigentlich ging.
Das gilt auch für die Schweiz und die Klimakrise: Nachdem die Parteien über Jahre hinweg die Klimafrage vertändelt haben, nahmen die Klimaaktivisten im vergangenen Jahr die Sache selber an die Hand. Und zeigten mit ihrem ausserparlamentarischen Druck – und ganz zum Erstaunen der Parteien -, dass sich viel mehr bewegen lässt, als die mutlosen Parteifunktionäre sich offenbar selber zutrauten. Unter dem Druck der Strasse, also wenig freiwillig, bequemten sie sich schliesslich, das Thema doch etwas ernster zu nehmen. Wenigstens in ihren Wahlkampfreden. Und: Dank der Klimabewegung gelang den Grünen in der sogenannten Klimawahl ein beträchtlicher Stimmenzuwachs, den die Partei aus eigenem Kraft nie hätte schaffen können.
Der falsche Schritt in die falsche Richtung
Kaum aber war die sogenannte Klimawahl vorbei, liess der Enthusiasmus bei den Parteien wieder merklich nach. In der Debatte um die Revision des CO2-Gesetzes im vergangenen Juni wurde eifrig um ein paar Rappen Benzinpreiserhöhung gestritten, oder um eine Flugticketabgabe, die aber auf keinen Fall irgend jemandem weh tun dürfe. Man tat, als ginge es ums Klima, wo es doch eigentlich um die Anliegen der Wirtschaft ging. Um das 1.5 Grad-Ziel, das Pariser Abkommens – oder um eine markante Reduktion der Treibhausgase über einen einheitlichen, nicht ganz schmerzfreien CO2-Preis und andere strikte Massnahmen -, ging und geht es faktisch schon längst nicht mehr.
Und die rotgrünen Parteien, die in der ersten Runde anderthalb Jahre zuvor noch klare rote Linien gesetzt hatten, spielten mutlos mit: Sie stimmten schliesslich für ein Gesetz, zu dem sie selber nicht so richtig stehen können, weil es, wie wir alle wissen und sie selber auch zugeben, bei weitem nicht hält, was es verspricht. Die dürftige Ausrede: Es sei wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung, und wenn «das Volk» irgendwann vielleicht gescheiter geworden sei, könne man ja immer noch nachbessern. Und das, obwohl die Klimawissenschafter immer dringlicher mahnten, man dürfe nun wirklich keine Zeit mehr verlieren.
Doch es kam noch schlimmer: Vor einigen Wochen beschloss die Umweltkommission des Ständerates (Urek-S), wattig verpackt in beschönigende Floskeln («Wirksamkeit, Ausgewogenheit und Technologieneutralität sind die leitenden Prinzipien»), dem Rat in der kommenden Herbstsession vorzuschlagen, das Gesetz noch weiter zu verwässern. Die Medien meldeten es beiläufig, Protest war kaum zu hören, nur die Klimastreiker und die Klima-Allianz, ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen, schlugen Alarm.
Die Klimajugendlichen sind keine verantwortungslosen Revoluzzer
Die Klimastreikbewegung hat also völlig recht: «Wir wurden von rechts beschimpft und belächelt, von den linken Parteien benutzt und belogen», sagt eine Sprecherin der Bewegung, und: «Man hat uns das Blaue vom Himmel versprochen und nichts davon geliefert. (…) Wir wurden im Stich gelassen.»
Warum also sollen die Jugendlichen weiter folgenlos demonstrieren und warten, bis die Parteistrategen irgendwann zur Überzeugung gelangen, das Volk sei jetzt reif genug für mehr als die bisherige Pflästerlipolitik? Ihre heftige Reaktion ist weit mehr als ein Ausdruck jugendlicher Ungeduld, wie der grüne Parteipräsident Balthasar Glättli etwas paternalistisch meint. Und die Jugendlichen sind auch keine wildgewordenen Klima-Hooligans oder angehenden Terroristen, wie die NZZ schreiben wird, wenn vielleicht bald für ein, zwei Stunden irgendwo der Verkehr lahmgelegt wird oder einige Aktivisten sich anketten und versuchen, kurzzeitig den Zugang zum Bundeshaus zu versperren. Es ist im Gegenteil eine durchaus verantwortungsbewusste Reaktion junger Staatsbürgerinnen und -bürger, die sich zu Recht mit allen Mitteln dagegen wehren, dass sie in 20, 30 Jahren ausfressen müssen, was ihnen die Politikerinnen und Politiker heute einbrocken. Und immerhin werden sie von Hunderttausenden von besorgten Bürgerinnen und Bürgern, Eltern und Grosseltern unterstützt.
Kein Vertrauen mehr in die Politik
Ziviler Ungehorsam, der gewaltlose friedliche Verstoss gegen Recht und Ordnung, gegen Verordnungen und vielleicht gegen Gesetze, ist illegal, aber durchaus legitim. Die Klimaschutzbewegung hat es mit Demonstrationen versucht, hat mehrmals in zahlreichen Städten der Schweiz ingesamt Hunderttausende von Menschen mobilisiert, die Medien haben jeweils die Zahl der Teilnehmer mitgeteilt, ein paar bunte Bilder publiziert, akribisch berichtet, wenn irgendwo ein Schaufenster in Brüche ging oder ein Graffiti gesprayt wurde. Wirklich auseinandergesetzt mit den Forderungen der Jugendlichen in dieser für die Menschheit existenziellen Frage hat sich jeweils kaum eine Zeitung. Jeder Blick-, Tamedia- oder 20 Minuten-Leser weiss heute mehr über die weltbewegenden Herz-Schmerz-Geschichten von Harry & Meghan, die Trainer-Dramen beim FC Basel oder das Knie von Roger Federer; kaum jemand – Hand aufs Herz – aber kann aus dem Stegreif die neun wichtigsten Themenfelder des CO2-Gesetzes aufzählen oder weiss Bescheid über den Klimaaktionsplan, den Climatestrike, der Schweizer Arm der internationalen Klimastreikbewegung, im Mai veröffentlicht hat.
Die Klimastreikbewegung hat das Vertrauen in die Parteien und ihre Politik verloren. Sie ist mit ihrer Kritik aber nicht allein: Nur noch 36 Prozent, also knapp ein Drittel, der Schweizer Bevölkerung, ist laut der Vimentis-Umfrage 2019 mit der Politik der Schweiz zufrieden. Das ist ein absolut verheerendes Verdikt. Und die Politikerinnen und Politiker? Anstatt ihr Verhalten zu hinterfragen und zu ändern(!), jammern sie selbstmitleidig ein bisschen und machen die Zeitungen, das linke Fernsehen oder die «Hetzer» in den Sozialen Medien für das Fiasko verantwortlich. Inhaltlich reagieren sie mit Achselzucken, allenfalls wollen sie vielleicht ihren Internet-Auftritt aufhübschen oder eine neue PR-Agentur anstellen, die sie besser «verkaufen» soll.
Es gibt beim Klima keinen «gutschweizerischen Kompromiss»
Dass die Klimabewegung nicht länger warten will, nicht länger warten kann, weil die Parteien, auch die rotgrünen, nur halbherzig für die dringend notwendige Kehrtwende kämpfen – man erinnert sich an das selbstgefällige Selbstlob vom «gutschweizerischen Kompromiss» und ähnliche Ausreden- , dass die Jugendlichen sich mit Aktionen des zivilen Ungehorsams wieder selber in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen wollen, ist nur logisch, denn: Es gibt in diesem Fall keinen gutschweizerischen Kompromiss. Unsere sonst gut geölte Konkordanz- oder Konsensdemokratie funktioniert in diesem Fall einfach nicht. Es ist vergleichsweise einfach, bei Problemen wie dem Vaterschaftsurlaub, der Unternehmenssteuerreform oder der sogenannten Begrenzungsinitiative einen Kompromiss zu erzielen, auch weil man den, falls er sich nicht bewährt, auch wieder korrigieren kann.
Nicht so bei der Klimaerhitzung: Das Klimasystem verhandelt nicht, ihm ist das Wohlergehen der Schweizer Wirtschaft egal. Mit Naturgesetzen kann man keine Kompromisse aushandeln. Und: Fehlentscheide lassen sich nur in sehr beschränktem Mass korrigieren: Haben wir in einigen wenigen Jahren unser «CO2-Budget» aufgebraucht, steigt die Welttemperatur während Jahrzehnten weiter über die Grenze von 1.5 bis 2 Grad Celsius hinaus, ohne dass wir das noch verhindern können. Sich dagegen mit aller Vehemenz, auch mit zivilem Ungehorsam zu wehren, ist keine Frage von Alarmismus, sondern der Vernunft. (CR)
Nähere Informationen über Ort und Zeit der Klimastreiks vom kommenden Freitag (4. September) in Altdorf, Basel, Bern, Biel, Davos, Delémont, Fribourg, Genf, Interlaken, Lausanne, Luzern, Neuchâtel,, Olten, Schaffhausen, St. Gallen, Uster und Zürich findet man auf climatestrike.ch. Ebenso über die Klimademos in Sursee (5. September), Chur (11. September) und Aarau (19. September). Und über die Vorbereitung zur Aktionswoche vom 20. – 25. September.
Kleiner Nachtrag
Eine deutliche Antwort auf den Artikel von Michèle Binswanger gab die von Binswanger persönlich angegriffene derzeitige Juso-Präsidentin Ronja Jansen.