Wie passt denn das zusammen? In New York appelliert UN-Generalsekretär António Guterres mit drastischen Worten an die Weltgemeinschaft, den Kampf gegen den Klimawandel nicht länger hinauszuzögern, weil unser Leben und unser Planet existenziell bedroht seien. Und in der Schweiz beschliesst das Parlament in den nächsten Tagen mit Unterstützung der Grünen und der SP ein CO2-Gesetz, das einen wirksamen Klimaschutz und die dringend notwendige Reduktion der Treibhausgase um Jahre verzögern wird.

Der Klimawandel, sagte Guterres anlässlich der Präsentation eines neuen Klimaberichts mehrerer UN-Organisationen, sei eine viel grössere Bedrohung für die Zukunft der Menschheit als Corona; er bedeute «eine existenzielle Gefahr für unseren Planeten und unser Leben (…) Entweder stehen wir jetzt zusammen oder wir sind dem Untergang geweiht.» Und: «Der klimatische Notstand ist die zentrale Frage, vor der die Welt steht.» (Das ganze Interview mit der Nachrichtenagentur AFP und dem globalen Mediennetzwerk «Covering Climate Now», dem übrigens auch Tamedia angehört, kann man hier lesen.)

Der UN-Generalsekretär, bekanntlich weder ein wild gewordener Alarmist noch ein hitzköpfiger Jugendlicher, bezieht sich auf einen eben veröffentlichten Bericht mehrerer UN-Organisationen unter der Führung der Weltmeteorologiebehörde WMO. Er zeigt auf, dass der momentane Rückgang der Treibhausgase wegen der Corona-Krise kaum längerfristige Auswirkungen auf die Klimaentwicklung haben wird. Trotz diesem kurzfristigen Rückgang um vier bis sieben Prozent zeige der langfristige Trend weiterhin klar nach oben.

Der Bericht «United in Science 2020» ist keine neue wissenschaftliche Studie, sondern fasst wichtige Forschungsergebnisse seit der Veröffentlichung des letzten Sachstandsbericht (AR 5) des Weltklimarat aus dem Jahr 2013 zusammen; der kommende 6. IPCC-Sachstandsbericht erscheint aufgrund der Corona-Krise mit Verspätung, voraussichtlich erst im Jahr 2022.

Der Bericht lässt keine Zweifel aufkommen: Die Folgen der Klimaerhitzung sind heute schon weltweit dramatisch. Fast überall auf der Welt schmelzen die Eisflächen der Gletscher, das arktische Seeeis ist seit 1979 jede Dekade um 13 Prozent geschrumpft; die Fähigkeit der Weltmeere, die bis anhin 90 Prozent der zusätzlichen Wärme aufgenommen haben, nimmt deutlich ab; die Hitzewellen in den Ozeanen bedrohen Tiere und Pflanzen; das schmelzende Gletschereis gefährdet langfristig die Wasserversorgung in mehreren Weltregionen; der Meeresspiegel steigt mit 4 Zentimeter pro Dekade mehr als doppelt so schnell wie vor 20 Jahren.

Die Emissionen steigen trotz Corona immer weiter

Fünf Jahre nach dem Pariser Klimaabkommen, nach Dutzenden von weiteren Klimakonferenzen und Tausenden von Lippenbekenntnissen von Politikern aus aller Welt, die Sache jetzt wirklich ernstzunehmen, sind die Emissionen kein bisschen gesunken, sondern erreichten im vergangenen Jahr gar ein neues Allzeithoch von 36,7 Milliarden Tonnen. Und es besteht kaum Aussicht, so der UN-Bericht, dass sich das in den nächsten Jahren ändern wird.

Der Notruf von Guterres ist also ziemlich wohlbegründet, denn: Um das 1.5-Grad-Ziel zu erreichen, müssten die weltweiten Emissionen allein in den kommenden zehn Jahren um jährlich 7 Prozent sinken. Beim derzeitigen Bummelkurs der globalen Klimapolitik ist dieser Absenkkurs völlig illusorisch. Das gilt auch für die Schweiz: Mit den Massnahmen, welche das CO2-Gesetz vorsieht, können die Emissionen nicht um 7 Prozent pro Jahr gesenkt werden. Dabei müsste die Schweiz als reiches und technologisch hoch gerüstetes Land nach dem im Abkommen verankerten „Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung und Fähigkeit» (common but differentiated responsibility and capability) proportional weit mehr einsparen als bloss der weltweite Durchschnitt.

Die 1.5-Grad-Limite wird in wenigen Jahren bereits erreicht

Dramatisch sind denn auch die Prognosen der Wissenschafter für die kommenden Jahre. Die UN-Experten rechnen damit, dass die Jahre 2016 bis 2020 die wärmste Fünfjahresperiode seit Beginn der Aufzeichnungen sein werden.. (Die durchschnittliche Temperaturentwicklung wird in der Regel in Fünfjahresperioden berechnet, um zufällige jährliche Schwankungen auszugleichen.) Die globale Durchschnittstemperatur liegt heute bereits um rund 1.1 Grad Celsius höher als im vorindustriellen Zeitalter. Bei einem voraussichtlich weiteren Anstieg von 0.24 Grad pro Jahre, wird die 1.5 Grad-Grenze schon in wenigen Jahren, lange vor 2030, erreicht.

Die Schweiz kommt also so oder so zu spät: Weder mit dem derzeitigen CO2-Gesetz noch mit irgendwelchen künftigen Verschärfungen kann sie ihren Anteil zur Reduktion der Treibhausgase leisten. Falls das 1.5-Grad-Ziel sich überhaupt noch erreichen lässt, dann gehört die Schweiz auf jeden Fall nicht zu den ambitionierten Vorbildern oder Vorreitern , sondern – wie so oft – zu den eigennützigen Profiteuren und Trittbrettfahrerin der globalen Klimapolitik.

Man kann es nur immer von Neuem wiederholen: Das CO2-Gesetz ist untauglich. Es ist, genau besehen, nicht einmal ein erster Schritt in die richtige Richtung. Denn wenn allein schon der erste Schritt verhindert, dass man das Ziel, was immer man auch später tut, jemals erreicht, dann kann das nicht die richtige Richtung sein.

Plötzlich sagen auch die Neinsager Ja

Umso mehr erstaunt, wie einmütig sich die rotgrünen Parteien mit den Bürgerlichen auf dieses untaugliche Gesetz geeinigt haben, wie kampflos sie dem erpresserischen Druck der Wirtschaft nachgegeben haben, wie leichtfertig sie die Forderungen der Wissenschaft und der grössten Massenbewegung seit Menschengedenken überhört und ignoriert haben. Und wie billig sie es sich machten mit faulen Ausreden, die sie als taktisch raffinierte Schachzüge oder als unausweichliche Zwänge rechtfertigten, obwohl es nichts als Schwäche und Mutlosigkeit war.

Noch erstaunlicher aber ist, dass auch die Funktionäre der Umweltverbände, von Greenpeace, WWF Schweiz und UmverkehR bis zum VCS, Youth for Climate und Klima-Allianz, die noch vor kurzem gegen das Gesetzes Sturm liefen und mit Vehemenz grundsätzliche Verbesserungen forderten, jetzt plötzlich dem Gesetz kleinlaut und verzagt zustimmen. Glaubwürdig macht man sich mit solchen Kehrtwenden nicht.

Wer sind die Bremser, das Volk oder die Parteien?

«Das Volk», so lautet die gängigste Ausrede, sei halt noch nicht so weit. Man dürfe es nicht überfordern, müsse es «mitnehmen». Fragt man bei den zuständigen Funktionären nach, woher sie denn so genau wüssten, was man dem «Volk» zumuten könne und was nicht, werden selbst die beredtesten Vertreter plötzlich ziemlich wortkarg. Verständlich, denn seriöse, detaillierte Meinungsumfragen, die danach fragen, wo denn beim Benzinpreis, bei der Flugticketabgabe und anderen Dingen die Schmerzgrenze liege, gibt es meines Wissens nicht.

Immerhin ergab die neueste Vimentis-Umfrage, dass 62 Prozent der Befragten sich eine aktivere Klimapolitik wünschen; und 58 Prozent dafür sind, dass die Schweiz bis spätestens 2050 aus Öl, Gas und Kohle aussteigt, um die CO2-Nettoemissionen auf Null zu senken. Für Politikerinnen und Politiker, die an ihre Argumentationsfähigkeit, ihre Überzeugungskraft und ihr Charisma glauben und nicht meinen, sie müssten «dem Volk» hinterherrennen, müsste das doch eine Herausforderung sein, ihren Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern plausibel zu erklären, dass es mit leeren Ankündigungen und wirkungslosen Trippelschrittchen eben nicht getan ist, sondern dass es eine ganz andere, neue Klimapolitik braucht, die auch tatsächlich hält, was sie verspricht. Und dass man vor allem keine Zeit mehr zu verlieren darf mit parlamentarischen Spielchen, Spiegelfechtereien, mit Umwegen und Verzögerungen.

Zu den Rechtfertigungen der Parteien gehört auch die Behauptung, dass nur dieser Umweg über ein wirkungsloses Gesetz vom «Volk» akzeptiert werde. Bis jetzt hat allerdings noch niemand plausibel erklären können, warum das Volk denn in zwei, drei Jahren plötzlich Massnahmen gut finden soll, die weit schmerzhafter und kostspieliger sein werden. Oder setzen sie vielleicht zynisch darauf, dass das Volk erst «klüger» wird, wenn es so tief in der Scheisse steckt, dass es gar nicht mehr anders kann als härteste Notmassnahmen zu akzeptieren?

Ginge es nicht schneller?

Ebenfalls keine einleuchtende Antwort erhielt klimanews.ch auf Anfrage bei mehreren Politikerinnen und Politikern, ob es denn keinen schnelleren Weg zu einem brauchbaren Klimagesetz gebe als diesen umständlichen Marathon, der zwangsläufig dazu führt, dass ein wirklich brauchbares CO2-Gesetz frühestens in vier, fünf Jahren in Kraft treten kann.

Natürlich ahnen wir schon lange, dass diese endlosen Verzögerungen nicht deshalb unvermeidbar sind, weil die formalen parlamentarischen Verfahren und Rituale kein schnelleres Tempo zulassen. Und wir ahnen ja auch, dass es vor allem darum geht, die Macht einer sehr kleinen Gruppe von Parteifunktionären, der Wirtschaftsverbände, der Gewerkschaften und anderer Interessengruppen abzusichern. Die Klimabewegung hat durchaus recht, wenn sie auf mehr Bürgerbeteiligung, mehr Mitsprache und Mitbestimmung der Zivilgesellschaft drängt. Auch für mehr Einfluss der Wissenschaft; es ist, wie auch die Corona-Krise zeigt, sinnlos, die Wissenschafter alibimässig anzuhören, um dann hurtig das Gegenteil zu machen.

Die Schweizer Klimapolitik hat sich in eine Sackgasse hineinmanövriert. Macht sie so weiter wie bisher, kommt sie nicht vom Fleck, weil es immer einige Gründe gibt, notwendige Entscheide abzuschwächen, zu blockieren und auf später zu verschieben. Will sie aber vorwärts machen, muss sie die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft mehr beteiligen, mehr mitreden und gleichberechtigt mitbestimmen lassen, was die Macht der Parteifunktionäre, der übermächtigen Wirtschaftsverbände und Interessengruppen beschneiden würde. (CR)