Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat der Bundesrat kürzlich entschieden, die Gletscherinitiative abzulehnen und mit einem direkten Gegenentwurf zu kontern. Das Vorgehen des Bundesrates wird aller Wahrscheinlichkeit ein wirksames Klimagesetz um Jahre verzögern.
Zur Erinnerung: Am 27. November 2019 reichte der Verein Klimaschutz Schweiz die sogenannte Gletscherinitiative ein. Sie verlangt, dass die Schweiz bis 2050 nicht mehr Treibhausgase ausstossen darf, als natürliche und technische Speicher aufnehmen können (Netto Null). Ab diesem Zeitpunkt sollen keine fossilen Brenn- und Treibstoffe wie Öl, Gas, Benzin oder Diesel mehr in Verkehr gebracht werden. (Den Wortlaut der Gletscherinitiative findet man auf der Webseite der Gletscherinitiative.)
In ersten Stellungnahmen begrüsste SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorsteherin des Umweltdepartments, die Initiative; im Kern entspreche sie den Vorstellungen des Bundesrates. Wie die NZZ am Sonntag vom 6. März 2020 schrieb, scheiterte Sommarugas allerdings im Bundesrat mit ihrem Vorschlag, die Initiative zu unterstützen. Der Bundesrat stehe zwar nach wie vor hinter dem Ziel der Initiative, heisst es in der NZZaS, das Verbot fossiler Energieträger ab 2050 gehe aber der Mehrheit der Bundesräte zu weit.
Am 2. September hat der Bundesrat den direkten Gegenvorschlag zur Initiative veröffentlicht und ein Vernehmlassungsverfahren eröffnet; die Vernehmlassungsfrist dauert bis zum 2. Dezember.
Ausnahmeregelungen für alles Mögliche
Wer den Gegenentwurf des Bundesrates liest, wundert sich. In der bundesrätlichen Stellungnahme heisst es dazu: «Der Gegenvorschlag des Bundesrates verfolgt dasselbe Ziel wie die Gletscher-Initiative: Bis 2050 sollen die klimaschädlichen Treibhausemissionen der Schweiz auf Netto-Null sinken.» Die Initiative gehe aber «punktuell» zu weit. So berücksichtige die Initiative die «Bedürfnisse der nationalen Sicherheit» und die «spezielle Situation der Berg- und Randregionen» zu wenig. Zudem sei die «wirtschaftliche Tragbarkeit» nicht gewährleistet. Deshalb wolle der Bundesrat die Verwendung fossiler Energieträger ab 2050 nicht grundsätzlich verbieten.
Konkret: Armee, Polizei oder Rettungsdienste sollen bei Bedarf auf fossile Treibstoffe zurückgreifen können. Auch sollen Ausnahmen möglich sein, wenn alternative Technologien wirtschaftlich nicht tragbar oder nur in ungenügendem Ausmass vorhanden seien. Zudem soll die besondere Situation von Berg- und Randregionen berücksichtigt werden. Einige andere Probleme etwa hinsichtlich der Anrechnung von CO2-Senken, der Auslandkompensation oder der Luftfahrt sollen, wie so oft in der Politik, wenn es schwierig wird, auf später vertagt werden.
Soweit so gut: Niemand kann ein Interesse daran haben, dass die Feuerwehr nach 2050 ihre alten Pferde-Löschfahrzeuge aus dem Museum holen muss. Oder dass Kranke nicht auf schnellstem Weg mit Ambulanzen in die Spitäler gefahren werden können. Und niemand wird wollen, dass die Bauern ihre Ernten mit Handkarren in die Scheunen bringen, ihr Heu von Hand vom Berg heruntertragen müssen. Bloss: Niemand und auch nicht der Bundesrat kann einem weismachen, dass es innerhalb von 40 (!) Jahren nicht möglich sein sollte, die Feuerwehr- und Polizeifahrzeuge, die Traktoren und Mähdrescher, die Truppen- und Materialtransporter der Armee und der öffentliche Verkehr in den Randregionen durch Elektromobile oder Wasserstofffahrzeuge zu ersetzen – bei einer Lebensdauer solcher Fahrzeuge von zwanzig, dreissig Jahren. Selbst die neuen Armee-Jets, falls sie überhaupt kommen, werden 2050 reif fürs Museum sein.
Der Bundesrat hat dem Druck der Wirtschaft nachgegeben
Bleibt als letztes Argument des Bundesrates die sogenannte wirtschaftliche Tragbarkeit, ein vager, diffuser und völlig subjektiver Begriff. Wie man weiss und an zahlreichen Beispielen belegen kann, ist für die Wirtschaft jede unliebsame Massnahme völlig untragbar, solange kein Gesetz oder eine Verordnung sie dazu zwingt. Dann aber sind solche Massnahmen erstaunlicherweise plötzlich möglich und verschaffen der Wirtschaft sogar gute Gewinne. So geschehen beim Einbau von Katalysatoren bei Dieselfahrzeugen, beim Ersatz von FCKW-Kühlmitteln durch andere, weniger schädliche Ersatzstoffe. Oder beim Übereinkommen zum Schutz des Rheins nach der Brandkatastrophe von Schweizerhalle. Beim Verbot von Asbest oder bei der Diskussion um den Grenzwert von CO2-Emissionen bei Pkw.
Bei fast allen Begründungen des Bundesrates geht es darum, die klaren Forderungen der Gletscherinitiative durch eine ganze Reihe möglicher Ausnahmebestimmung zu»ergänzen». Oder, etwas unfreundlicher formuliert, die Forderungen der Gletscherinitiative aufzuweichen, abzuschwächen, auszuhöhlen. Was übrig bleibt, ist ein allgemeines Bekenntnis zu Netto Null bis 2050 und die Möglichkeit, im konkreten Fall die Forderungen der Gletscherinitiative ausser Kraft zu setzen. Kurz: Was beim bundesrätlichen Gegenentwurf von der Gletscherinitiative übrig bliebe, ist eine Emmentaler-Gletscherinitiative mit zahlreichen grossen Luftlöchern.
Über die Hälfte der Bevölkerung will Netto-Null bis 2050
Die trickreiche Argumentation des Bundesrates ist immer dieselbe; man findet sie im Erläuternden Bericht des Bundesrates an zahlreichen Stellen: Der bundesrätliche Gegenentwurf, so soll suggeriert werden, steht voll und ganz hinter den Zielen der Gletscherinitiative, er bringt bloss einige kleine Korrekturen an, damit die Wirtschaft nicht zugrundegeht. Dieser argumentative Trick, muss man vermuten, ist ein Zückerchen für die Befürwortern der Gletscherinitiative – laut einer Vimentis-Umfrage wünschen sich 62 Prozent der Befragten eine aktivere Klimapolitik; 58 Prozent sind dafür, dass die Schweiz bis spätestens 2050 aus Öl, Gas und Kohle aussteigt. Aber zugleich gibt der Bundesrat dem massiven Druck der Wirtschaft nach, insbesondere der Auto- und Erdölbranche, den Rohstoffhändlern und den CO2-intensiven Industrieunternehmen, indem man ihnen an allen Ecken und Enden Schlupflöcher anbietet.
CO2-Emissionen verhindern oder bloss vermindern?
Zu Recht wehrt sich das Initiativkomitee der Gletscherinitiative in seiner Vernehmlassung gegen diesen doch etwas scheinheiligen «Deal». So kritisiert das Komitee etwa die schwammige Formulierung des bundesrätlichen Gegenentwurfs zur wichtigsten Forderung der Initiative, nach der «ab 2050 (…) keine fossilen Brenn- und Treibstoffe mehr in Verkehr gebracht werden» dürfen. «Ausnahmen», heisst es immerhin im Initiativtext auch, «sind für technisch nicht substituierbare Anwendungen zulässig (…)» Im bundesrätlichen Gegenentwurf heisst es dagegen: «Der Verbrauch fossiler Brenn- und Treibstoffe ist soweit zu vermindern (!), als dies technisch möglich, wirtschaftlich tragbar und mit der Sicherheit des Landes und dem Schutz der Bevölkerung vereinbar ist.» Eine präzisere, wenn auch etwas weniger schmeichelhafte Formulierung wäre: «… falls es der Wirtschaft passt.»
Warum kein indirekter Gegenvorschlag?
Allerdings: Selbst wenn der Bundesrat an all diesen Ausnahmen, Auslassungen und Ausreden festhält, stellt sich doch die Frage, warum er dies nicht auch in einem indirekten Gegenvorschlag, einem Klimagesetz, unterbringen könnte. Im Erläuternden Bericht des Bundesrates findet man dazu keine Erklärung.
In der Tat aber würde ein indirekter Gegenvorschlag das ganze parlamentarische Verfahren um Jahre abkürzen. Denn bis eine Volksabstimmung über die Gletscherinitiative und den bundesrätlichen Gegenentwurf stattfindet, dauert es mindestens noch anderthalb Jahre. Damit wäre allerdings noch nichts gewonnen, denn für die Umsetzung von Verfassungsänderungen braucht es zwingend Gesetze, welche die allgemeinen Ziele in entsprechenden konkrete Massnahmen überführen. Die Ausarbeitung eines solchen Klimagesetzes und die parlamentarische Behandlung (plus allfälligem Referendum) dauert aber im Minimum weitere anderthalb bis zwei Jahre – es können aber, siehe Alpeninitiative oder CO2-Gesetz, auch mehrere weitere Jahre vergehen.
Hätte sich der Bundesrat für einen indirekten Gegenvorschlag entschieden, liesse sich dieser Umweg über eine Verfassungsänderung vermeiden: Das Parlament könnte direkt über ein entsprechendes Klimagesetz debattieren, die Initianten könnten, falls das Gesetz ihre wichtigsten Forderungen übernimmt, ihre Initiative zurückziehen. Ein Zeitgewinn von mindestens drei, vier Jahren bei ähnlichem Resultat.
Auch die Klima-Allianz lehnt den Gegenvorschlag des Bundesrates ab
Dieser Meinung ist auch die Klima-Allianz, der Dachverband der Umweltverbände mit rund 70 Mitgliedern wie Greenpeace, WWF, Alliance Sud, Pro Natura, die Hilfswerke der Kirchen oder Public Eye. Sie lehnt einen direkten Gegenentwurf zur Initiative ab. «So weitgehende Ausnahmen bereits auf Verfassungsstufe vorzusehen, lässt am Willen des Verfassungsartikels zweifeln» heisst es in der Vernehmlassungsantwort, «Ausnahmen müssten auf Gesetzesstufe festgelegt werden, um der jeweiligen tatsächlichen Ausgangslage gerecht zu werden.» Auch stösst sich die Klima-Allianz daran, dass der Bundesrat offenlassen will, wie Emissionsreduktionen im Ausland angerechnet werden. Damit mache er klar, dass er «nicht beabsichtige, die Emissionen (in der Schweiz, wie es die Gletscherinitiative verlangt) linear auf netto-null abzusenken. «Diese Fehlinterpretation (…), die der Bundesrat in seinem erläuternden Bericht vornimmt, lehnen wir als zentraler Punkt entschieden ab.»
Bleibt als Fazit: Was immer sich der Bundesrat bei seinem Entscheid gedacht hat, er muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mutwillig die dringend notwendige «Verschärfung» des CO2-Gesetzes um Jahre hinauszuzögern. (CR)