Dass es zwischen der Corona Task Force und dem Bundesrat knarzt und kracht, ist nicht zu überhören. Und ebenso, dass die Medien, vorab die Tamedia-Blätter, mit gehässigen Kommentaren eifrig Öl ins Feuer giessen. Ähnlich gestört ist aber auch das Verhältnis zwischen dem Bund und den Klimawissenschaftern. Worum geht es?

Es sei, so tönt es aus dem Bundeshaus,, völlig unzulässig, dass Wissenschafter, konkret: Mitglieder der Corona Task-Force, sich erfrechen, eine eigene kritische Meinung zu den Entscheidungen des Bundesrates zu haben und diese gar noch öffentlich vertreten. «Die Wissenschafter», meinte Bundesrat Alain Berset in einem Interview mit der NZZ, «sind sehr wichtig für uns, wir sind in ständigem Austausch mit ihnen, aber sie regieren nicht die Schweiz. Die politischen Entscheide werden von anderen gefällt, vom Bundesrat und von den Kantonsregierungen. Im Bundesrat berücksichtigen wir auch Informationen von den Kantonen und den Spitälern und erhalten so ein Gesamtbild.»

Sind die Wissenschafter schuld an der Corona-Krise?

Ganz ähnlich sieht es auch die Tages-Anzeiger-Plaudertasche Michèle Binswanger. Unter dem Titel «Expertenwissen hat seine Grenzen» lobt sie Ueli Maurers Attacke gegen die «überbordende Expertengläubigkeit». «Wie Maurer richtig bemerkte», schreibt Binswanger, «sehen Experten nur ihr Fachgebiet – was ja auch ihre Aufgabe ist. Politische Entscheidungsträger aber müssen viele Faktoren berücksichtigen, die manchmal mit der Expertenmeinung in Konflikt stehen. Die Frage lautet dann, wo die Verantwortung der Experten aufhört und diejenige der Politik beginnt. Denn auch Expertenwissen hat seine Grenzen, Primat hat immer noch die Politik.»

Da will natürlich auch Arthur Rutishauser mitzündeln, der Chefredaktor der Tamedia-Mantelredaktion, der jede Chance wahrnimmt, mit seinen Zeitungen jede «Story» zu einem Elefanten aufzublasen. Dass er für seinen giftigen Kommentar zur neuesten Lagebeurteilung der Task Force bestenfalls ein bisschen an der knappen Zusammenfassung geschnuppert hat, ohne auch nur mit einem Wort auf die ausführliche, wissenschaftlich fundierte Begründung einzugehen, ist zwar schon fahrlässig genug. Schwerer aber wiegt, dass er dabei einiges völlig durcheinander bringt. «Man wird», spekuliert er vor sich hin, «das Gefühl nicht los, dass die Experten ein schlechtes Gewissen haben, weil sie Anfang Oktober nicht deutlich genug gewarnt haben und die Schweiz darum völlig unnötig in die zweite Welle schlitterte.»

Das ist ein doch sehr freihändiger Umgang mit den Tatsachen, denn wahr ist ja das pure Gegenteil: Selbst wer nur den Tages-Anzeiger liest, dürfte mitbekommen haben, dass die Epidemiologen seit dem Sommer immer wieder eindringlich und deutlich genug gewarnt haben, dass die vorschnellen Lockerungsübungen des Bundesrates fast zwangsläufig eine fatale zweiten Welle zur Folge haben werden. Rutishausers Schuldzuweisung ist etwa so stichhaltig, wie wenn man den Klimajugendlichen vorwerfen würde, sie seien am Klimawandel schuld.

Auch die Klimaforscher dürfen bloss ein bisschen mitreden

Nicht viel anders gelagert sind die Probleme, welche das sogenannte OcCC, das Beratende Organ für Fragen der Klimaänderung, mit dem Bund hat: Auch die Klimawissenschafter, einige davon immerhin Koryphäen im Weltformat, beklagen sich seit längerem, dass sie von der Politik zwar angehört, aber kaum ernstgenommen werden. So war es während vielen Jahren selbstverständlich, dass den offiziellen Delegationen an Klimagipfeln auch Klimaforscher angehörten. Seit 2012 aber ist die Klimawissenschaft in diesen Delegationen nur noch sporadisch vertreten. Für den Gipfel 2019 in Madrid etwa wählte das Bundesamt für Umwelt (Bafu) neben einem Vertreter des WWF lieber den Ressortleiter Schadenversicherung des Schweizerischen Versicherungsverbandes (SVV) und den Ressortleiter Wirtschaftspolitik des Schweizerischen Gewerbeverband (SGV) in die Delegation als einen Klimaforscher. Es stünden, so die Begründung des Bafu auf eine damalige Anfrage von klimanews.ch in diesem Jahr keine wissenschaftlichen Aspekte im Mittelpunkt der Verhandlungen.

Man gibt sich also nicht einmal Mühe, plausiblere – oder wenigstens originellere – Ausreden für die Desavouierung der Wissenschafter zu erfinden. Und das, obwohl bei beiden Themen nicht der geringste Anlass besteht, sich die Epidemiologen und die Klimawissenschafter vom Hals zu halten. Denn es gibt sowohl bei Corona wie beim Klimawandel kaum jemand im ganzen Land, der mehr über diese beiden hochkomplexen Probleme weiss als die Epidemiologen und die Klimaforscher, Auch wenn sie nicht alles wissen, so doch bei weitem mehr als ihre bundesrätlichen und journalistischen Kritiker. Und: Wo Berset und Sommaruga bloss hoffen und spekulieren, dass ihre Entscheidungen vielleicht doch die erwünschten Wirkungen zeitigen, wo Rutishauser bloss mit irgendwelchen vagen Gefühlen hantiert, argumentieren die Wissenschafter, soweit das möglich ist, mit überprüfbaren Fakten, belastbaren Zahlen und handfesten Analysen.

Vor allem aber zeigt sich im Nachhinein, dass die Wissenschafter mit ihren Prognosen und Szenarien bisher fast immer richtig lagen, während «die Politik» oft meilenweit daneben lag.

Fachidioten im Elfenbeinturm – ein läppisches Klischee

Weil man aber bei aller Rhetorik nicht ganz an dieser Tatsache vorbeikommt, bemüht man das läppische Klischee der weltfremden Eigenbrötler, die in ihrem Elfenbeinturm an irgendwelchen fachidiotischen Fragen herumgrübeln, die mit unserem Alltagsleben nicht das Geringste zu tun haben. Sollen sie doch weitergrübeln, heisst es dann, aber sie sollen uns Politikern und journalistischen Welterklärern bitte nicht ins Handwerk pfuschen.

Dabei weiss jeder, der hin und wieder mit Wissenschaftern zu tun hat, dass auch sie längst im 21. Jahrhundert angekommen sind, dass auch sie über ihren spezifischen Forschungsgegenstand hinaus genauso gut wie die Politiker und Journalisten wissen, wie die Welt, die Wirtschaft und die Gesellschaft funktionieren. Und dass, um bei der Klimaforschung zu bleiben, die Atmosphären- und Geobiophysiker, die Klimamodellierer längst intensiv mit Klimaökonomen, mit Spezialisten für Klimapolitikanalyse, Experten für Klimakommunikation, für Umweltsoziologie oder Umweltrecht zusammenarbeiten, die gleich im Büro nebenan sitzen. (Bei den Immunologen wird es wohl nicht anders sein.)

Kurz: Die Wissenschaften, die Forschung, haben alle Expertise, die es braucht, um zu wissen, wie man der Corona-Krise, der Klimakatastrophe begegnen kann. Hätte man von Anfang an auf die Epidemiologen gehört, ihre Ratschläge befolgt, wäre die Schweiz heute nicht ein Super-Hotspot der Corona-Pandemie. Und hätte man die Klimaforscher ernstgenommen, die seit rund 30 Jahren aufzeigen, was dringend zu tun wäre, – die Schweiz wäre längst auf dem richtigen Weg, ihre Klimaziele für 2030 und 2050 ohne immense Kosten und Wohlstandsabstriche zu erreichen.

Die «anderen Faktoren»

Statt dessen relativiert man die Rolle der Wissenschaft und behauptet, ohne allerdings stringente Belege und stichhaltige Argumente anzuführen, politische Entscheidungsträger hätten eben noch viele «andere Faktoren» zu berücksichtigen». Gemeint sind im Klartext unter anderem die Druckversuche mächtiger wirtschaftlicher Lobby-Gruppen, parteipolitische Ränkespiele, Hinterzimmer-Kungeleien, individuelle Karriere-Ambitionen, die Jagd nach Wählerstimmen und Ähnliches.

Niemand, weder Berset und Sommaruga noch Binswanger und Rutishauser würden die Wissenschafter tadeln, wenn sie dieses Spiel mitspielen würden. Bloss: Diesen Gefallen kann die Wissenschaft der Politik nicht machen. Weil sie eben Wissenschaft ist. (CR)