Am 12. Dezember 2015 wurde das Pariser Klimaabkommen verabschiedet. Es wurde als Durchbruch, als grosses Versprechen an die Menschheit gefeiert. Wir fragen: Wie geht es der Welt fünf Jahre danach? Eine Bestandesaufnahme.
Seit 50 Jahren kennen wir die Grenzen des Wachstums. Seit 30 Jahren wissen wir, dass sich das Klima gefährlich schnell, hundertmal schneller als je zuvor, erhitzt. Seit Jahrzehnten wissen wir auch, dass die Ungleichheit zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern wie auch jene innerhalb der einzelnen Ländern massiv zunimmt. Und dass Ressourcenverschwendung, Klimakrise und Ungleichheit zusammenhängen (Stichwort «Klimagerechtigkeit»).
Das alles wissen wir und wir wissen auch, was zu tun wäre, um die Katstrophe zu verhindern, welche unsere Lebenswelt und Zivilisation in den nächsten paar Jahrzehnten zu zerstören droht. Wir wissen, dass es nicht ausreicht, nur die «schlimmsten Auswüchse» zu mildern, die eklatantesten Schäden zu reparieren. Sondern dass wir unser Wirtschaftssystem, das auf Wachstum, Wettbewerb und Eigennutz basiert, radikal zu einer solidarischen und auch selbstgenügsamen Kreislaufwirtschaft umbauen müssen, ob es uns passt oder nicht. Dass wir das «fossile Zeitalter» beenden und die erneuerbaren Energien massiv fördern müssen. Und dass wir die Ungleichheit zumindest so weit reduzieren müssen, dass nicht ein grosser Teil der Menschen noch mehr verarmen, verhungern oder ihre Lebensgrundlagen verlieren, durch Dürren und Überschwemmungen, durch immer extremere Wetterverhältnisse und massivem Verlust an Biodiversität, durch den Anstieg des Meeresspiegels und andere klimabedingte Katastrophen.
Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren
Wir wissen auch, dass all das, was heute «bloss» einige hundert Millionen Menschen erleiden, in wenigen Jahrzehnten uns allen droht, weil wir letztlich alle im selben Boot sitzen. Auch die Villenbesitzer und Wohlstandsbürger in den privilegierten Gegenden der Welt, die SUV-Fahrer und Städte-Jetter werden dann nicht mehr verschont bleiben. Vor allem aber wissen wir, dass wir keine Zeit mehr zu verlieren haben, dass es längst nicht mehr immer nur «fünf vor zwölf» ist, sondern «High Noon», zwölf Uhr oder gar schon «fünf nach zwölf», wie immer mehr Klimawissenschafter aufgrund von Studien und immer präziseren Daten befürchten.
Und trotzdem tun wir immer noch so, als ginge uns das alles fast nichts an. Wir geben uns mit faulen Ausreden zufrieden, mit der vagen Hoffnung, dass noch gar nicht erfundene Innovationen und wundersame Technologien alle Probleme schon irgendwie lösen würden. Mit Ausflüchten, dass es Wichtigeres gebe als das bisschen Klimakrise. Politikerinnen und Politiker von ganz rechts bis ganz grün, narkotiseren uns mit immer neuen hochgesteckten Zielversprechen, ohne dass sie zugleich die entsprechenden Massnahmen beschliessen, damit diese Ziele auch wirklich erreicht werden können. Statt dessen feiern sie es schon als einen Sieg oder zumindest als «grossen Schritt in die richtige Richtung», wenn es ihnen nach jahrelangem Gefeilsche gelingt, dass der Benzinpreis um einige Rappen erhöht wird oder die Flugtickets um einige Dutzend Franken teurer werden.
Wir müssen es uns leisten, ob wir wollen oder nicht
Wie ernst es den sogenannten Entscheidungsträgern, den «Realpolitikern», wirklich ist, zeigte sich, als die Klimajugend vor anderthalb Jahren Hunderttausende auf die Strasse brachte, um gegen die Politik der grossen Versprechungen und kleinen Schrittchen zu protestieren: Selbst seriöse Zeitungen verspotteten Fridays for Future als «Kinderkreuzzug», diffamierten die Jugendlichen wahlweise als Umweltideologen oder Ökoterroristen, als Moralapostel, bestenfalls als verführte Träumer und weltfremde Idealisten. Inzwischen zeigt sich immer mehr, dass die verhöhnten Idealisten die wahren Realisten sind, weit mehr als die meisten Politikerinnen und Politiker, die in kurioser Selbsthypnose die grossen Probleme kleinreden.
Als Killerargument gegen alle ökologische Notwendigkeit dienen fast immer und ewig die «untragbaren Lasten für die Wirtschaft», genauer: die Kosten, welche die Wirtschaft und damit jeder Einzelne zu tragen habe. Hätte man in den Neunzigerjahren mit ernsthaftem Klimaschutz begonnen, wären diese Kosten leichter zu tragen gewesen. Sie hätten sich auf eine längere Zeitspanne verteilt. Jetzt kommen mit jedem vertrödelten Jahr neue Klimaschäden dazu, welche sich hätten vermeiden lassen, wenn man rechtzeitig vorgesorgt hätte. Und noch immer tun sich viele Unternehmen und ganze Branchen schwer mit der Erkenntnis, dass Klimaschutz nicht bloss ein Kostenfaktor ist, sondern, wenn es denn sein muss, auch eine durchaus lukrative Investition in ihre eigene Zukunft.
1992, vor bald dreissig Jahren, beschloss die Weltgemeinschaft am Erdgipfel von Rio de Janeiro in einer ersten Klimarahmenkonvention, die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau zu stabilisieren, auf dem «eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird». Seither sind die Treibhausgasemissionen um über 50 Prozent gestiegen.
Im Schneckentempo
Nach 23 (!) weiteren Jahren Verhandeln und Feilschen einigte sich die Weltgemeinschaft, allerdings ohne die USA und einige weiterer Staaten, mit dem Pariser Klimaabkommen erstmals auf konkrete Ziele: Neben einigen anderen Dingen, etwa der Äufnung eines Klimafonds, soll die durchschnittliche globale Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter auf «deutlich» unter 2 Grad, wenn möglich auf 1.5 Grad beschränkt werden.
Wie dieses Ziel konkret erreicht werden soll, blieb aber auch in Paris unklar. Um Wackelkandidaten nicht vor den Kopf zu stossen, beliess man es vorerst bei einem völlig unverbindlichen Verfahren: Die unterzeichnenden Staaten geben sich selber je eigene nationale Klimapläne mit Reduktionszielen für jeweils Fünfjahresperioden. Diese sollen alle fünf Jahre überprüft und – ebenfalls auf freiwilliger Basis – verschärft werden. Sanktionen sind nicht vorgesehen; man setzt auf Gruppendruck.
Wie zu erwarten war, genügten die 2015 eingereichten nationalen Zusagen bei weitem nicht, um Kurs auf das globale Reduktionsziel zu halten. Gemäss der Internetseite «Climate Action Tractor» (CAT), die von den Forschungsinstituten Ecofys, Climate Analytics und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) erstellt wird, würde man beim bisherigen Kurs bei rund 3 Grad landen; falls alle Staaten ihre abgegebenen Versprechen einhalten, käme man auf rund 2.6 Grad. Immer noch zu viel, um zahlreiche Klimakatastrophen zu vermeiden.
Der eigentliche Lackmustest kommt 2023
Gemäss dem Pariser Abkommen hätten alle Unterzeichnerstaaten bis im Frühling dieses Jahres erstmals ihre neuen «verschärften» Klimapläne einreichen sollen. Bis im Dezember taten dies laut CAT gerade mal drei Länder (Chile Norwegen, Grossbritannien), in weiteren 6 Ländern plus der EU liegen zumindest ehrgeizigere Klimapläne auf dem Tisch – die Schweiz gehört wie 133 weitere Länder nicht dazu; sie hat derzeit nichts mehr zu bieten als eine vage Ankündigung, dass Parlament und Volk vielleicht irgendwann in einigen Jahren konkrete Massnahmen verbindlich beschliessen könnten.
Was dieser Mechanismus der freiwilligen Selbstverpflichtung wirklich wert ist, wird sich also frühestens im kommenden Jahr am Klimagipfel von Glasgow und erst recht in drei Jahren zeigen, wenn die jetzt eingereichten «verschärften» Massnahmen überprüft und bewertet werden. Offensichtlich aber ist bereits jetzt: Selbst 30 Jahre nach Rio de Janeiro, nach 5 umfangreichen Sachstandsberichten und zahlreichen Sonderreports des Weltklimarates, nach Hunderten von Klimakonferenzen und 25 Weltgipfeln, fünf Jahre nach dem gefeierten «Durchbruch» von Paris haben die meisten Politiker offensichtlich immer noch nicht verstanden, was ihnen die Klimawissenschafter und auch die Klimajugend seit Jahren zurufen: Es eilt! Wir dürfen nicht noch mehr Jahre verlieren?
Und die Emissionen? Laut den Jahres-Bulletins der Weltwetterorganisation (WMO) steigt die Konzentration der Treibhausgas-Emissionen mit kleinen Schwankungen kontinuierlich weiter. Die Reduktion der Emissionen aufgrund der Corona-Krise wird, so die WMO, «keinen spürbaren Effekt auf die Konzentration der Klimagase in der Atmosphäre» haben; sie ist laut WMO nichts als eine kleine Delle in einer weiter ansteigenden Kurve.
Einige Lichtblicke
Ausser Spesen also nichts gewesen? Hat Greta Thunberg recht, als sie vor einigen Tagen monierte, die Zeit seit Paris seien nichts als «fünf Jahre der Untätigkeit und des Schaffens von Schlupflöchern» gewesen?
Nicht ganz richtig. Denn auch wenn das Pariser Klimaabkommen bisher kaum zu einer nachhaltigen Reduktion der Treibhausgase geführt hat, so hat das Abkommen doch die weltweite Klimadiskussion deutlich verändert. Die Bereitschaft zu wirkungsvolleren Massnahmen ist, zumindest auf dem Papier, fast weltweit gewachsen. Das 1.5-Grad-Ziel, Netto Null, das Ende des fossilen Zeitalters sind – vor wenigen Jahren noch undenkbar – in vielen Ländern anerkannte oder wenigstens heftig diskutierte Zielperspektiven. Weit über hundert Länder, darunter Japan, Südkorea und Kanada haben laut dem Online-Portal Klimareporter ein Netto-Null-Ziel beschlossen oder ziehen es in Erwägung. China, Spitzenreiter unter den Treibhausgas-Emittenten, will immerhin bis 2060 klimaneutral werden. Auch der Ausbau der erneuerbaren Energien geht voran.
Dreizehn Länder, darunter Norwegen, Schweden, Dänemark, Israel, die Niederlande, Grossbritannien und Frankreich, wollen keine neuen Benzin- und Dieselfahrzeuge mehr zulassen, die einen bereits ab 2025, die anderen etwas später.
Der Druck auf die Finanzbranche, ihre Investitionen klimagerechter auszurichten, hat massiv zugenommen. Und: Wenn der zukünftige US-Präsident Joe Biden seine Ankündigung wahr macht, dem Pariser Abkommen wieder beizutreten und eine engagiertere Klimapolitik zu betreiben, dann hat die Verschiebung der Klimakonferenz von Glasgow um ein Jahr vielleicht sogar einen positiven Nebeneffekt, denn die USA sind zusammen mit China für über 40 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich.
Das sind, zugegeben, allenfalls Lichtblicke. An der Tatsache, dass die Lücke zwischen den bisherigen Klimaplänen der Länder und den Zielvorgaben des Paris-Vertrages nicht kleiner geworden ist, ändert sich dadurch wenig. Die vertrödelten Jahrzehnte lassen sich nicht aufholen. Solange die Unterzeichner des Abkommens nicht einsehen, dass die freiwilligen, unverbindlichen Mechanismen des Pariser Abkommens nicht ausreichen, und solange sie nicht bereit sind, ihre nationalen Interessen der Notwendigkeit solidarischen Handelns unterzuordnen, gibt es kaum eine Hoffnung, der sich anbahnenden Katastrophe zu entkommen. Die Klimabewegung hat noch einiges zu tun, um den Poliikerinnen und Politikern auf die Sprünge zu helfen. (CR)
Kleiner Nachtrag
Zur Feier des fünfjährigen Jubiläums der Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens hatte UN-Generalsekretär António Guterres am 12. Dezember zu einem kleinen digitalen Weltgipfel, dem Climate Ambition Summit, eingeladen. Eingeladen waren allerdings nur 75 Länder (plus die EU und Papst Franziskus), nämlich jene Staaten, die ihre Klimaziele seit 2015 angehoben haben oder wenigstens ambitioniertere Klimaziele ankündigen können. Also neben fast allen europäischen Ländern auch China, mehrere lateinamerikanische Staaten wie Chile und Argentinien sowie zahlreiche Entwicklungsländer und jene kleinen Inselstaaten, deren Allianz in Paris dafür gekämpft hat, dass das 1.5-Grad-Ziel in das Pariser Abkommen aufgenommen wurde.
Nicht eingeladen waren unter anderem die Schweiz. Die Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga hätte ja kaum etwas Konkretes anbieten können ausser der vagen Hoffnung, dass die Schweiz vielleicht in ein paar Jahren ihre Klimaziele auch etwas anheben könnte. (Vielleicht mit ein Grund, weshalb die Medien und die offizielle Schweiz, die sonst immer gross mit dabei war, wenn es galt, auf internationalem Parkett die ambitionierte Klimapolitik anzupreisen, den für unser Land peinlichen Anlass, weitmöglichst verschwiegen.)
«Auch fünf Jahre nach Paris bewegen wir uns immer noch nicht in die richtige Richtung», sagte Guterres in seiner kurzen Eröffnungsrede zum Climate Ambition Summit. Die damals abgegebenen Versprechen reichten, so Guterres, längst nicht aus, ja, selbst diese würden bislang nicht einmal ausreichend umgesetzt. Statt dessen, gäben die G20-Staaten, die insgesamt für rund 90 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich seien, immer noch 50 Prozent mehr für fossile Energien aus als für klimafreundliche Energien. «Ohne einen Kurswechsel riskieren wir einen katastrophalen Temperaturanstieg von mehr als drei Grad.» Und er forderte alle Länder auf, den Klimanotstand auszurufen und sich Netto Null zum Ziel zu nehmen.
Guterres: «Der Planet ist kaputt»
Schon anfangs Dezember hatte der leidenschaftlich kämpferische UN-Generalsekretär in einer Rede an der Columbia-Universität der Weltgemeinschaft hart ins Gewissen geredet, als die Weltwetterorganisation (WMO) und das UN-Umweltprogramm (UNEP) zwei alarmierende Klimaberichte vorstellten.
„Der Planet ist kaputt. Die Menschheit führt einen Krieg gegen die Natur», sagte er damals. Statt den Verbrauch fossiler Brennstoffe zwischen 2020 und 2030 um jährlich 6 Prozent zu verringern, steige er jährlich um rund 2 Prozent. Frieden mit der Natur zu schließen, sei deshalb die wichtigste Aufgabe des 21. Jahrhunderts. (CR)