Über das CO2-Gesetz, das Stände- und Nationalrat im Juni verabschiedet haben, kann man mit gutem Grund unterschiedlicher Meinung sein. Jetzt hat auch die Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT) Stellung bezogen. Überzeugend ist sie nicht.

Die Stellungnahme der Akademie, welche die Wissenschafter letztlich als Plädoyer für das CO2-Gesetz verstanden wissen wollen, ist ein erstaunliches Papier: Es zählt, zumal in der ausführlicheren Fassung, vor allem auf, was gegen das Gesetz spricht.

Obwohl das Gesetz explizit zum Ziel hat, die Emissionen bis 2030  gegenüber 1990 um die Hälfte zu reduzieren, heisst es im SCNAT-Papier: «Die beschlossenen Massnahmen genügen jedoch sehr wahrscheinlich nicht, um den Ausstoss von Treibhausgasen bis 2030 zu halbieren und bis 2050 im Inland kontinuierlich auf netto null zu senken.» Und die Stellungnahme zählt die bekannten, wissenschaftlich belegten und weitgehend unbestrittenen Gründe im Detail auf: So sehe das neue Gesetz vor, die Emissionen bis 2030 bloss um 37 Prozent im Inland zu reduzieren, dabei sei eine Reduktion allein im Inland von 50 Prozent notwendig. Oder: Wenn das im neuen CO2-Gesetz vorgegebene Tempo beibehalten werde, «würde es danach (nach 2030) noch weitere 35 Jahre dauern, bis die Emissionen im Inland soweit gesunken sind, um das Netto-Null-Ziel zu erreichen.» Statt bis 2050 würde Netto-Null also erst 2065 erreicht. Spricht nicht gerade für das CO2-Gesetz.

Argumentative Konjunktive

Oder: Zu den Grenzwerten für neue Personenwagen oder zur Benzinpreiserhöhung von maximal 12 Rappen pro Liter, einem wichtigen Element des Gesetzes, heisst es in der SCNAT-Stellungnahme, dass dies von den Konsumenten im Vergleich zu den kurzfristigen Preisschwankungen  wohl kaum wahrgenommen würde, also auch keinen Einfluss auf ihr Verhalten (und folglich auf de CO2-Emissionen) habe. Der finanzielle Lenkungseffekt der Flugticketabgabe sei ebenfalls gering, er sei allenfalls ein «wichtiges politisches Signal für Konsumenten und vor allem für Investoren, um in effiziente und alternative Technologien zu investieren». Bloss: Niemand weiss, ob und wann diese neuen Technologien jenseits kleinster Versuchsanlagen zur Verfügung stehen, mit Sicherheit jedenfalls nicht in der Laufzeit des CO2-Gesetzes, also bis 2030. Auch mehrere andere Massnahmen sind für die Wissenschafter bloss ein Anreiz, ein Einstieg. Ausreichend, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens einzuhalten, sei das CO2-Gesetz nicht.

Oder: Das Positionspapier argumentiert mit der Planungssicherheit, die das Gesetz für Industrie und Wirtschaft bringe. Zugleich aber präsentiert das SCNAT-Positionspapier eine lange Liste von Ergänzungen, Verschärfungen, die dringend in den kommenden paar Jahren durchgesetzt werden müssten. Und das Papier weist daraufhin, dass in den kommenden drei, vier Jahren mit dem Energie- und Strommarktgesetz und der Gletscherinitiative ohnehin die gesamte Klimapolitik massiv verschärft werden könnte. Die von den Wissenschaftern als Pro-Argument erwähnte Planungssicherheit wird es also ohnehin nicht geben, ob mit oder ohne CO2-Gesetz..

Fast überall, wo es darum geht, die Defizite des Gesetzes ein bisschen zu mildern, argumeniert das Papier der Akademie im Konjunktiv; es «sollten», es «müssten», es «könnten» weitere strengere Massnahmen  ergriffen werden etc. Alle diese Forderungen sind durchaus richtig und dringend, bloss stehen sie nicht im CO2-Gesetz, um das es derzeit geht, sondern bloss im Wunschkatalog der Naturwissenschafter.

«Der Spatz in der Hand…»

Warum also ist die Akademie für das CO2-Gesetz, obwohl mehr dagegen als dafür spricht? Des Rätsels Lösung steht im Punkt 6 des Positionspapiers: «Der im Parlament ausgehandelte Kompromiss liegt wahrscheinlich nahe am Maximum dessen, was die Bevölkerung in Bezug auf Klimaschutz zur Zeit bei einer Referendumsabstimmung gutheissen würde.»  Diese doch eher spekulative Behauptung ist letztlich nichts anderes als die schlechte Übersetzung des Sprichworts: «Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach», das bei den meisten Diskussionen mit Befürwortern als letztes hilfloses Argument übrig bleibt, warum sie trotz aller Mängel doch für das CO2-Gesetz sind.

Bloss: Sprichwörter sind keine wissenschaftlich unterlegten Erkenntnisse, sie haben etwa die gleiche Evidenz wie die Prognosen der Muotathaler Wetterschmöcker. Auf jeden Fall sind sie nicht «Klare Worte der Klima- und Energieforschung«, wie Reto Knutti, einer der führenden Schweizer Klimawissenschafter auf Twitter meint, sondern allenfalls persönliche Meinungen der Klima- und Energieforscher

«Aufgeklärte Bürger akzeptieren durchaus auch unangenehme Einschränkungen»

Besser hält man sich in dieser Frage deshalb an Sozialwissenschafter, an Verhaltensforscher, Soziologen, Politologen und Psychologen, die auf diesem Gebiet doch etwas kompetenter sind. Etwa an die Verhaltensökonomin Lucia Reisch, die schreibt: «Aufgeklärte Bürger akzeptieren durchaus auch unangenehme Einschränkungen – wenn sie für alle gelten und wenn sie gut begründet und erklärt werden. Die Dringlichkeit der Situation und das Vertrauen in die Aussender dieser Nachricht sind hier essenziell.»

Das meint: Die permanent zunehmenden Klimakatastrophen, die Waldbrände in Kalifornien, die Dürren und Überschwemmungen in Afrika und Südostasien, die Schreckensmeldungen über die abschmelzenden Gletscher in der Arktis, die massiv abnehmende Biodiversität und die unaufhaltsam ansteigende Erderwärmung etc. etc. werden das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger rasant verändern, jedenfalls schneller als dasjenige der Politiker. Etwa desjenigen von Franz Perrez, dem obersten Klimadiplomaten der Schweiz, der sich im Tages-Anzeiger vom 28. Dezember wider besseres Wissen immer noch damit brüstet, die Schweiz gehöre «zu jenen Staaten, deren Klimaziel im Einklang mit den Empfehlungen des Weltklimarates IPCC» sei. Obwohl die Schweiz gegenüber der EU und vielen anderen Staaten längst ganz weit vorne auf der Liste der grössten Drückeberger steht, die bei allen Spatzen und Tauben noch nicht einmal die Minimalzwischenziele des Pariser Abkommens erreichen werden.

Der schnellere Weg: die Gletscherinitiative

Vielmehr müssen sich die Wissenschafter die Gegenfrage gefallen lassen, ob nicht gerade die Fixierung auf den Spatz in der Hand die Taube auf dem Dach verscheucht. Denn unglücklicherweise fällt der Abstimmungskampf um das CO2-Gesetz genau in die Zeit, in der auch über die Revision des Energie- und des Strommarktgesetzes und die weitaus ambitiösere Gletscherinitiative verhandelt wird – letztere kommt in der Stellungnahme übrigens gerade mit einem einzigen schmürzeligen Satz vor.

Die Befürworter müssen dann den argumentativen Spagat hinkriegen, gleichzeitig für und gegen das CO2-Gesetz zu sein: Dafür im Abstimmungskampf für das Gesetz, dagegen in der Diskussion um das Energiegesetz und die Gletscherinitiative. Eine kluge speditive Behandlung der Gletscherinitiative würde schneller zum Ziel führen als der langwierige Umweg über ein untaugliches CO2-Gesetz mit anschliessenden Korrekturen im Schneckentempo. Mit seinem Entscheid, der Gletscherinitiative einen direkten Gegenvorschlag gegenüberzustellen, hat der Bundesrat allerdings dafür gesorgt, dass über die Gletscherinitiative bestensfalls Mitte der 2020er Jahre abgestimmt werden kann. Die Umsetzung in einem Gesetz dauert dann noch einmal Jahre – die Debatte um das CO2-Gesetz dauert inzwischen 3 Jahre, die Alpeninitiative ist 26 (!) Jahre nach ihrer Annahme durch das Volk auf Gesetzesstufe immer nicht nicht umgesetzt worden.

Und: Das von den meisten Politikern vertretene und von den Naturwissenschaften nachgeschwätzte Argument, das Gesetz sei wenigstens ein «Schritt in die richtige Richtung», könnte sich als riesiger Irrtum erweisen. Wenn man mit Karacho auf den Abgrund zurast und die Katastrophe nur mit einer Vollbremsung verhindert werden kann, dann ist ein bisschen Bremsen definitiv ein Schritt in die falsche Richtung.

Übrigens: Das SCNAT-Positionspapier zeigt eine ganze Reihe dringlicher Massnahmen auf, die der Bundesrat bereits heute in eigener Regie umsetzen könnte, etwa die Abschaffung aller möglichen Ausnahmeregelungen und Schlupflöcher bei neu zugelassenen Personenwagen, bei den Zielvereinbarungen mit Unternehmen oder beim Handel mit Emissionszertifikaten.

Aber: Der Bundesrat, der bei jeder Gelegenheit betont, für wie ungeheuer wichtig er die Klimapolitik hält, ist nicht einmal fähig oder gewillt, diese minimalen Verschärfungen durchzusetzen. Natürlich kein Zufall, denn wie man weiss, sitzen an seinen Sitzungen immer auch einige virtuelle Bundesräte von diversen mächtigen Wirtschaftsverbänden mit am Tisch.

Zumindest von diesem aktuellen Bundesrat, der gleich in die Knie geht, wenn ein Wirtschaftsvertreter etwas laut hustet, kann man kaum erwarten. dass er in Zukunft mutiger agieren wird. Oder bei den harten Auseinandersetzungen um zukünftige Revisionen die von der Akademie geforderten «möglichst ambitionierten» Zielvorstellungen auch wirklich energisch vertritt und verteidigt. (Der Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative ist da ein erstes beredtes Beispiel.)  Die Hoffnung, dass sich die Akademie durch aktuelles Wohlverhalten einen Bonus verdient und die Politik künftig vermehrt auf die Wissenschaft hören könnte, ist reichlich naiv.

Die massive Beeinflussung des Bundesrates und des Parlaments  durch die mächtigen Wirtschaftsverbände in der momentanen Coronakrise lässt ahnen, dass diese die Annahme des CO2-Gesetzes vor allem dazu nutzen werden, um alle weiter gehenden Initiativen und Gesetze zu bekämpfen und zu blockieren. Man habe doch mit dem CO2-Gesetz das Notwendige, Mögliche und für die Wirtschaft Verkraftbare schon erreicht. Nun solle man doch bitte mit dem ewigen Gestürm aufhören und abwarten, was das CO2-Gesetz bis 2030 wirklich bringt. Kurz: Das immer noch bürgerlich dominierte Parlament wird kurz nach der Annahme des CO2-Gesetzes kaum Ja sagen zu all jenen Ergänzungen und Revisionen, welche nach Ansicht der Akadmie notwendig wären, um die grossen Defizite des Gesetzes zu korrigieren. (Siehe Nachtrag)

Dass ein Gesetz, von dem zum vornherein klar ist, dass es sein Ziel verfehlt, ein untaugliches Gesetz ist, lässt sich auch mit allen argumentativen Ausreden nicht wegdiskutieren. (CR)

Kleiner Nachtrag

Die Kritik des Nein-Komitees an der Stellungnahme des Akademie (siehe Tages-Anzeiger vom 23. Dezember) ist ein deutlicher Hinweis auf die künftige Strategie der Klimaschutz-Bremser. Die bürgerlichen Parteien ausser der SVP sind zwar bereit, das CO2-Gesetz zu akzeptieren. Viele aber, die dem Gesetz nur mit Bauchweh und höchst halbherzig zugestimmt haben, werden, so vermutet das Nein-Komitee wohl zu Recht, weitere verschärfenden Massnahmen und Gesetzesrevisionen, nicht mehr mittragen. (CR)