So schön wird die Hügelkuppe des Mormonts, laut Bundesinventar eine Landschaft von nationaler Bedeutung, aussehen, wenn Holcim weiter buddeln darf. (zVg)

Am vergangenen Montag und Dienstag (29./30. März) haben 150 Polizisten in schwerer Kampfmontur mit Tränengas und Gummischrott den Steinbruch «La Birette» in der waadtländischen Gemeinde Eclépens «befreit» und die rund 200 Klimaaktivistinnen und -aktivisten vertrieben, die das Gelände seit Oktober 2020 besetzt hielten.

Die Aktion verlief nach Polizeiangaben weitgehend friedlich. Rund 20 Besetzerinnen und Besetzer wurden kurzzeitig festgenommen und müssen mit Anklagen wegen Hausfriedensbruch, Missachtung einer gerichtlichen Anordnung, Hinderung einer Amtshandlung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt rechnen. Gegen die Besetzung hatte die Zementfirma Holcim geklagt, die hier seit 1953 Kalk abbaut und eine Zementfabrik betreibt. Sie will den Steinbruch in nächster Zeit um 300’000 Quadratmeter vergrössern. Allerdings erfolgte die Räumung ohne aktuelle Not, da mehrere Umweltverbände vor Bundesgericht gegen das Vorhaben geklagt haben; das Urteil steht noch aus.

Der Kampf um den Mormont

Nun ist der Hügel Mormont, an dessen Abhang der Steinbruch liegt, kein x-beliebiger Hügel und Holcim kein x-beliebiges Unternehmen. Am Mormont fanden Archäologen 2006 Überreste eines keltischen Heiligtums, Skelette, Opfergaben, Hunderte von Gefässen, Bronzegeschirr, Mühlsteine – es war ein Fund von europäischer Bedeutung, wie die NZZ vom 7. November 2006 schrieb. Auf Drängen von Holcim mussten die Funde aber in einer Art Notübung wenigstens teilweise gesichert werden. Fachleute redeten von einer Lachnummer. Aber auch als aussergewöhnliches Biotop ist der Mormont mit seinen Linden- und Eichenwäldern berühmt geworden, hier finden sich seltenen Orchideenarten und anderen seltenen Pflanzen in einer grossen Vielzahl und Vielfalt. Nicht zufällig ist die Kuppe des Mormont 1983 in das Bundesinventar der «Landschaften und Naturdenkmälern von nationaler Bedeutung» aufgenommen worden.

Und Holcim? Das Tochterunternehmen von LafargeHolcim, dem weltweit grössten Hersteller von Baustoffen, produziert in seinen drei schweizerischen Zementwerken nicht nur grosse Mengen von Zement, sondern auch grosse Mengen von CO2 und weiteren Treibhausgasen, insgesamt jährlich rund 1,7 Millionen CO2eq. Das entspricht rund 5 Prozent der gesamten inländischen CO2-Emissionen. Man muss sich das vor Augen führen: Ein einzelnes Unternehmen ist für ein Zwanzigstel der gesamten Treibhausgase der Schweiz verantwortlich! Auch sonst glänzt LafargeHolcim nicht mit einer besonders weissen Weste. Eine illegale Müllhalde in einer ehemaligen Kiesgrube in Schleswig-Holstein, ein Feinstaub-Skandal in Nigeria, der Verdacht auf Schutzgeldzahlungen an die Terrororganisation Islamischer Staat in Syrien, über hundert weitere Fälle von Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen in 34 Ländern wie Greenpeace Schweiz 2020 in einer Dokumentation berichtet.

Zynismus der Macht

Der Fall ist klar: Es geht bei der Besetzung und Räumung des Kalksteinbruchs nicht um einen Kleinkrieg zwischen ein paar Dutzend Klimaaktivistinnen und -aktivisten gegen ein einzelnes rücksichtsloses Unternehmen. Die von den Klimaschützern eingerichtete «zone à défendre de la colline» steht für den ganzen Widerstand der Klimajugend gegen Unternehmen, die nur auf dem Papier so tun, als ginge es ihnen um Klimaschutz und Klimagerechtigkeit. Die spotten, man nehme die Anliegen der Aktivisten «sehr ernst», und zugleich zynisch anfügen: «Angesichts der Besetzung des Grundstücks und der damit verbundenen Sicherheitsrisiken nimmt Holcim ihre Verantwortung ernst und hat Strafanzeige eingereicht.» (SRF-Tagesschau vom 11. Dezember 2020)

Bloss: Mit ein paar Klagen wegen Hausfriedensbruch wird sich dieser Fall kaum erledigen lassen. Zumal sich mit Fridays for Future, Klimastreik Schweiz, den Juso und den Jungen Grünen praktisch die gesamte Klimajugend mit den Besetzerinnen und Besetzern solidarisiert – die SP und die Grünen haben sich bisher vornehm zurückgehalten, werden aber kaum drum herumkommen, Stellung zu beziehen. In Lausanne haben spontan rund 1500 Menschen gegen die Räumung demonstriert. Über hundert Gemeinde- und Kantonspolitiker unterzeichneten einen Offenen Brief an die Waadtländer Regierung. Und das ist erst der Anfang, auch wenn die NZZ in einem Kommentar wieder einmal gegen alle Evidenz die Extremismus-Karte zieht und den Klimaaktivisten «Etikettenschwindel» vorwirft: » Sie reden vom Klima, aber meinen die geltende Ordnung. (…) Die Drahtzieher suchen die Auseinandersetzung mit dem Staat.»

Unzufrieden mit der parlamentarischen Demokratie

Aber die fantasielose Nachahmung des legendären «Wehret den Anfängen!»-Hetzartikels des damaligen NZZ-Chefs Fred Luchsinger vom 17. Juni 1968 wird die inzwischen etwas aufgeklärtere Öffentlichkeit kaum beeindrucken. Inzwischen weiss man es besser: Die grosse Mehrheit der Klimajugend kämpft nicht gegen die Demokratie, sondern gegen die Krise der Demokratie. Wie Umfragen belegen, glauben immer weniger Bürgerinnen und Bürger – und längst nicht nur die Klimajugend -, dass die Politik, die Regierenden und die Parteien, in der Lage sind, adäquate Antworten auf die Klimakatastrophe zu finden. Immer offensichtlicher wird, dass die Umweltministerin Simonetta Sommaruga und der ganze Bundesrat im Zweifelsfall nicht imstande sind, dem Druck der mächtigen Wirtschaftsverbände zu widerstehen; und immer klarer zeigt sich auch, dass die Parteien vor lauter kompromisslerischer Taktiererei zunehmend das Ziel aus den Augen verloren haben, wirkungsvolle Gesetze zu zimmern, mit denen sich die proklamierten Ziele des Pariser Klimaabkommens und von Netto Null tatsächlich erreichen lassen.

Mehr Bürgerbeteiligung!

Was die Klimajugend erkämpfen will und eine wachsende Anzahl von Politikwissenschaftern – darunter so berühmte wie Jürgen Habermas und John Rawls – vorschlägt, ist nicht weniger Demokratie, sondern eine andere Demokratie. Etwa Modelle einer sogenannten «deliberativen Demokratie», in der Bürgerräte, Gruppen zufällig, aber repäsentativ ausgewählter Bürgerinnen und Bürger unter Einbezug von Experten miteinander diskutieren und Vorschläge erarbeiten.

Die Vorzüge solcher Verfahren liegen auf der Hand: Es wird nicht in geschlossenen Kommissionen und verschwiegenen Hinterzimmern gemauschelt, sondern öffentlich und für jeden einsehbar diskutiert; hier versuchen nicht Wirtschafts-, Verbands- und Berufsvertreter ihre partikulären Interessen durchzusetzen, sondern «gewöhnliche» Bürgerinnen und Bürger kümmern sich selber um ihre eigenen Angelegenheiten, um das allgemeine Wohlergehen ihrer Gesellschaft; hier zählen nicht Machtverhältnisse, sondern Argumente; niemand kann auf andere Druck ausüben.

Versuche mit solchen partizipativen Bürgerdiskussionen (sogenannten «mini publics») in Deutschland, in der Toskana, in der ligurischen Stadt Piombino wie auch in Quebec, haben gezeigt, dass solche ausserparlamentarischen Formen vielfach zu sinnvolleren und vor allem besser legitimierten Lösungen führen – es gibt kein»Die machen ja eh, was sie wollen…»

Mit juristischen Sanktionen gegen Aktionen des zivilen Ungehorsams oder Besetzungen wie am Mormont wird man die Klimaaktivisten auf jeden Fall nicht zum Schweigen bringen. (CR)

Kleiner Nachtrag

Ein treuer NZZ-Leser machte klimanews.ch darauf aufmerksam, dass die Besetzerinnen und Besetzer während der Räumung immer wieder den Slogan «Anti-Capitalista» skandierten, was dem NZZ-Kommentator als hieb- und stichfester Beweis galt, dass es den «Drahtziehern» nicht um das Klima, sondern um die Abschaffung unserer geliebten Wirtschaftsordnung gehe. Natürlich ist das klimanews.ch auch nicht völlig entgangen.

In Anbetracht dessen, dass es vermutlich weniger die unmittelbaren Opfer der Klimakatastrophe im globalen Süden und die Klimajugendlichen in den hochentwickelten Industrieländern des Westens sind, denen man «die Zukunft klaut», welche weltweit eine wirkungsvolle Klimapolitik zu verhindern suchen, sondern die mächtigen kapitalistischen  Unternehmen und Wirtschaftsverbände, – in Anbetracht dessen kann man nicht ganz umhin, den Klimajugendlichen einiges an Verständnis entgegenzubringen.  Umso mehr, als man den Verdacht nicht ganz los wird, dass es diesen ebenfalls weniger um das Klima als vielmehr um ihre Profite und ihre Millionen-Boni geht. 

Da hilft auch nicht der Hinweis, dass der vielfache Milliardär Bill Gates in den kommenden fünf Jahren zwei Milliarden Dollar in Forschung und Start-ups investieren will, um eine neue Generation «supersicherer Atomkraftwerke» zu entwickeln. Dass diese Technologien noch meilenweit entfernt sind von ihrer praktischen massenhaften Umsetzung, die «supersicheren» AKW also erst zur Verfügung stehen, wenn es längst zu spät ist, gehört zu den kleinen Ungereimtheiten, die einem selbsternannten «Visionär» wie Gates halt so unterlaufen können, wenn er sich wieder einmal als Weltenretter inszenieren will. (CR)