Vor 12 Jahren in Cancun getragen, aber heute aktueller denn je

Es ist ein Trauerspiel sondergleichen: Kaum ein Tag vergeht ohne neue Klima-Katastrophenmeldungen. Und die Mächtigen dieser Welt? Sie bekunden einmal mehr ihren guten Willen, diskutieren und verhandeln – mit ernüchterndem Ergebnis: Von einer effizienten globalen Klimapolitik kann immer noch keine Rede sein. Vom Ziel des Pariser Klimaabkommens von 2015, die Erderwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit auf 1.5 Grad zu beschränken, ist die Welt weiter entfernt denn je.

Die Fakten, welche uns die Klimawissenschafter liefern, sind unanfechtbar: Die Extremwetter-Katastrophen – Starkregen, Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürren – nehmen weiterhin zu und werden laut der Weltorganisation für Meteorologie WMO auch in Zukunft fast jedes Jahr neue Rekordwerte erreichen. Der Meeresspiegel und die Ozeantemperaturen steigen ebenso unaufhörlich wie das arktische Meereis und die Gletscher schmelzen. Die ökologischen Schäden nehmen rapide zu, die Biodiversität rapide ab.

Und auch das ist gesichert: Der CO2-Gehalt in der Atmosphäre steigt seit Jahrzehnten stetig weiter an, trotz Klimakonferenzen und -abkommen – das erste Abkommen, die Rio-Erklärung für Umwelt und Entwicklung wird übrigens im kommenden Jahr dreissig Jahr alt. Nach einer kleinen Verschnaufpause durch die Corona-Pandemie gehen die Emissionen wieder deutlich nach oben, sie haben bereits wieder das vorpandemische Niveau erreicht. Die durchschnittliche Erderwärmung ist seit dem vorindustriellen Zeitalter bereits um 1.2 Grad gestiegen; es fehlen nur gerade noch 0.3 Grad bis zum 1.5-Grad-Limit des Pariser Abkommens. Mit den bisher beschlossenen (und angekündigten) Klimaschutz-Massnahmen wird sich die Erde bis Ende des Jahrhunderts auf unerträgliche 2.6 Grad erwärmen. (Das ist der weltweite Durchschnitt, in der Schweiz wird es um 4 bis 5 Grad wärmer. Was das für die Landwirtschaft, die Wälder, die Volksgesundheit, den Wintertourismus etc. bedeutet, wissen wir auch. Nachzulesen im Bericht «Klimawandel in de Schweiz»  des Bundesamtes für Umwelt)

Und schliesslich: Das sogenannte CO2-Budget, also die Menge der Treibhausgase, welche der Menschheit noch «zur Verfügung» steht, wenn das Pariser Klimaziel wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht überschritten werden soll, wird in weniger als 7 (sieben!) Jahren vollends aufgebraucht sein – eine «theoretische» Zahl gewiss, die Konsequenzen aber werden sehr konkret sein.

Die Klimakatastrophe ist Gegenwart

Zusammengefasst: Die Klimakatastrophe ist nicht mehr das Problem einer fernen Zukunft. Sie ist längst Gegenwart. Die Jugendlichen von heute, die 20- und 30jährigen, werden in aller Härte ausbaden müssen, was wir ihnen heute einbrocken. Die notwendigen Massnahmen werden ähnlich einschneidend sein wie heute die Corona-Massnahmen, und das nicht bloss für ein, zwei Jahre. Mit blossen Versprechungen, zaghaften Trippelschrittchen und der Vertröstung «ungenügend, aber in der richtigen Richtung» ist es längst nicht mehr getan. Das Gerede muss endlich Konsequenzen haben.

Der Weckruf von UN-Generalsekretär António Guterres, die Welt stehe am Abgrund, der Planet sei kaputt, die Menschheit führe einen selbstmörderischen Krieg gegen die Natur, ist nicht hysterischer Alarmismus, sondern nichts anderes als die Beschreibung der aktuellen Wirklichkeit. Was es braucht, ist ein radikaler, kompromissloser und harter Vollstopp. Das heisst: Die unverzügliche Umsetzung all dieser Versprechungen.

Der «Leaders› Climate Summit» – eine Joe Biden-Show

Und was tun die Mächtigen dieser Erde? Auf Einladung von Joe Biden, trafen sich vor einigen Tagen die 40 wichtigsten Regierungschefs der Welt im Internet zum «Leaders› Climate Summit», einer vorwiegend für die Öffentlichkeit inszenierten Show, die unter anderem signalisieren soll, dass die USA nach der Rückkehr zum Pariser Abkommen klimapolitisch wieder eine herausragende Rolle spielen wollen. Nicht zufällig kommentierte die Weltpresse das Resultat nicht als Erfolg für das Klimas, sondern als Erfolg von Joe Biden.

Auf der Traktandenliste standen im Hinblick auf den Weltklimagipfel vom kommenden November in Glasgow wieder einmal neue, strengere Klimaziele. Allerhöchste Zeit, denn durch eine grundlegende Fehlkonstruktion legt das Pariser Klimaabkommen keine präzisen CO2-Limiten und entsprechenden Reduktionspfade fest, sondern stellt es den einzelnen Staaten anheim, nach eigenem Gutdünken nationale Emissionsziele festzulegen; diese sollen alle fünf Jahre vom Bonner Klimasekretariat der Klimarahmenkonvention UNFCC dokumentiert, überprüft und die säumigen Staaten dazu angehalten werden, ihre Klimaziele doch bitte anzupassen. Sanktionen gegen Länder, die sich diesen Vorschlägen widersetzen, sind weiterhin nicht vorgesehen.

Auf dem Jahrmarkt der Versprechungen

Was aber bieten die Unterzeichner des Pariser Abkommens auf diesem Jahrmarkt der vagen Versprechungen an? Zahlreiche Staaten, darunter auch die Schweiz, haben dem Klimasekretariat ein halbes Jahr vor Glasgow noch gar keine konkreten Vorschläge unterbreitet. Mehrere Gross-Emittenten wie Russland, Indien und Australien wollen sich noch nicht festlegen, während Jair Bolsonaro gar immer noch so tut, als gehe die Klimakrise Brasilien gar nichts an.

Als Vorreiter präsentiert sich die EU, die ihre Treibhausgase bis 2030 nicht bloss um 40, sondern neu um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 senken will. Ob alle EU-Mitgliedstaaten diesen Beschluss der Regierungschefs und des Europaparlaments aber mittragen, ist noch ungewiss. Auch Kanada, Grossbritannien, Japan und Südkorea, Norwegen und einige andere Länder haben ambitioniertere Ziele angekündigt.

Die USA tun wenigstens so: Sie wollen die Emissionen bis 2030 um 50 Prozent reduzieren, allerdings nicht wie die meisten übrigen Staaten im Vergleich zu 1990, sondern im Vergleich zu 2005. Eine propagandistischer Taschenspielertrick, denn zwischen 1990 und 2005 sind die US-Emissionen um über 15 Prozent oder fast 900 Millionen Tonnen gestiegen. Umgerechnet auf 1990 beträgt die von Biden vorgeschlagene Reduktion nicht 50, sondern bloss 40 Prozent. Und selbst diese ist ungewiss, weil Biden seine Klimapläne erst noch durch den Senat und das Repräsentantenhaus durchbringen muss.

Chinas Xi Jinpin bekräftigte an der Biden-Show bloss seinen alten Vorsatz, mit der Reduktion der Emissionen überhaupt erst ab 2030 zu beginnen. In der Zwischenzeit aber nimmt China jährlich eine ganze Reihe neuer Kohlekraftwerke in Betrieb und exportiert ebensoviele und mehr in Entwicklungsländern. Was Putin am «Leaders› Climate Summit» der Welt sagen wollte, darüber rätseln noch nach Tagen die Exegeten. 

Also: Noch nicht einmal die proklamierten Ziele der 41 Länder, die zusammen rund 80 Prozent der Treibhausgase emittieren, reichen aus, um die Erderwärmung auf 1.5 oder 2 Grad zu beschränken. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass in den meisten Ländern diese Ziele noch längst nicht beschlossen sind und ihre Umsetzung in praktische Massnahmen allenfalls «angedacht» ist, wie die Politikerinnen und Politiker sagen, wenn sie ausdrücken wollen,  dass die Massnahmen eh nicht oder erst in einigen Jahren umgesetzt werden sollen.  

Klimagerechtigkeit – mehr als moralisches Gebot

Dazu kommt. Nur ganz am Rande wurde eines der Kernprobleme der globalen Klimapolitik diskutiert: die Klimagerechtigkeit. Diese ist, im Gegensatz zur landläufigen Meinung vieler, nicht bloss ein herzensgutes Anliegen einiger weltfremden Menschenfreunde, die keine Ahnung haben von Politik und dem brutalen Wirtschaftsleben. Sondern: Ohne Klimagerechtigkeit ist eine wirkungsvolle globale Klimapolitik gar nicht möglich. Es ist kein Zufall, dass in der Präambel des Pariser Klimaabkommens der fast unverständliche, aber zentrale Grundsatz «der Gerechtigkeit und der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähigkeiten angesichts der unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten» festgeschrieben wurde. Er besagt auf der moralischen Ebene, dass es nicht sein darf, dass arme Länder, deren Bewohner kaum etwas zur Erderwärmung beigetragen haben, die Folgen heute am schlimmsten zu spüren bekommen. 

Der Grundsatz hat aber auch eine klare realpolitische Rationalität. Gerade heute. Viele Länder des globalen Südens rutschen derzeit in eine Schuldenkrise, die sie zwingt, ihre ohnehin mageren Budgets für den Klimaschutz zu kürzen oder ganz zu streichen. Und das nicht wie die wohlhabenden Industriestaaten wegen einiger Prozente, um die das BIP sinken könnte, sondern weil sie buchstäblich zugrunde zu gehen drohen. Das bedeutet, die reichen, hochindustrialisierten Länder müssen diesen Ländern nicht bloss Schuldenerlass in grossem Umfang gewähren, dass sie sich wirtschaftlich erholen können, sie müssen ihnen auch viel mehr finanzielle Hilfe bieten als bisher, damit sie sich gegen Dürren, Hitzewellen und Überschwemmungen schützen können. 

Die reichen Länder müssen schneller vorwärtsgehen

Aber das ist bloss das Eine; das andere, genau so wichtige Thema, um das sich die «Leaders» ebenso wie die Politikerinnen, die Politiker – und die Medien – dieser Welt konsequent drücken, ist: die westliche  Wohlstandsländer, auch die Schweiz, müssen sehr viel schneller vorwärtsmachen. Die Zielmarken 2030 und 2050 geben den weltweiten Durchschnitt an.  Nur wenn die Industrieländer diese Ziele früher erreichen, haben die armen Länder  mehr Zeit und Chancen, ihrer Bevölkerung zu jenem minimalen Wohlstand zu verhelfen, ab dem es überhaupt erst möglich wird, an mehr zu denken als ans blanke Überlebenen heute und morgen. Das ist nicht Wohltätigkeit, sondern wirtschaftliche Mathematik. Kein armes Land des globalen Südens kann es sich leisten, teure Klimaschutzmassnahmen umzusetzen, solange seine Bevölkerung verhungert oder an der Armutsgrenze dahinvegetiert. (CR)

Kleiner Nachtrag (5. Mai)

Mittlerweile scheint es sich sogar bis zur NZZ herumgesprochen zu haben, dass da irgend etwas ganz gehörig schiefläuft. Peter Ràsonyi, Auslandchef der NZZ, der Umwelt- und Klimaschützer sonst meist nur als Linksradikale und Krawallmacher tituliert, die «aus purer Lust an Randale» etwa in den Hambacher Forst gereist seien, oder in ihnen bloss einen Haufen spinnerter Romantiker erkennen kann, «die sich jedem Baum innig verbunden fühlen», – selbst er schreibt in einem Kommentar zum Leaders› Climate Summit: «Es reicht noch lange nicht!» «Es ist klar», meint er zu Recht, «dass die Pariser Klimaziele ohne die grossen Entwicklungs- und Schwellenländer nicht erreicht werden können», und zeigt zugleich auf, dass diese weder in der Lage noch gewillt sind, auf den weiteren Ausbau von Kohlestrom zu verzichten, nur damit die westlichen Industrieländer ihren Wohlstand weitegehend wahren können.  

«Die Weichen», schreibt Ràsonyi, «müssen jetzt gestellt werden.» Und es klingt schon fast so, als hätte er ein bisschen zuviel Greta Thunberg erwischt: «Dass dies geschieht, darf nicht nur den Politikern überlassen werden. Wähler, Konsumenten, Investoren, Aktionäre, Arbeitnehmer, Manager, sie alle haben es in der Hand, über die Politik, über die Unternehmen und die Finanzmärkte Druck zu machen, damit sich die Welt hin zu mehr Klimaschutz bewegt.» Dass in dieser Aufzählung die wichtigste Kraft, die Klimajugend, fehlt, mag man ihm verzeihen. Es ist als NZZ-Boss vielleicht nicht standesgemäss, seinen ärgsten Feinden, den Linksradikalen und Krawallmachern, den Öko-Terroristen und  den Baumromantikern, auch einmal recht zu geben. Eher unverzeihlich ist allenfalls, dass er ganz vergass, auf die Rolle der Medien im Allgemeinen und seiner eigenen Zeitung im Speziellen hinzuweisen. (CR)