Nachdem das deutsche Bundesverfassungsgericht das Klimaschutzgesetz von 2019 in Teilen für verfassungswidrig erklärt hat, muss Deutschland das Gesetz massiv nachbessern. Das wird auch der internationalen Debatte neuen Schub verleihen.

Das Urteil des Verfassungsgerichts zwingt die Bundesregierung, das Klimaschutzgesetz von 2019 in wesentlichen Punkten massiv zu verschärfen und zu konkretisieren. Das vorliegende Gesetz, das eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 55 Prozent bis 2030 und Klimaneutralität bis 2050 vorsieht, beschränke die Freiheiten künftiger Generationen in unzulässiger Weise. Es bürde ihnen die Hauptlast im Kampf gegen den Klimawandel auf, sie müssten zwangsläufig ausbaden, dass die derzeitige Generation zuwenig unternehme, um das Netto-Null-Ziel bis 2050 auch wirklich zu erreichen. Deshalb müsse nicht bloss das Zwischenziel für 2030 verschärft, sondern müssen auch verbindliche Reduktionsziele für das Jahr 2040 festgelegt werden. Der Staat sei verpflichtet, der Nachwelt Lebensgrundlagen zu hinterlassen dass sie in Zukunft «nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit» bewahrt werden können. 

Schluss mit der «Aufschieberitis»

Das Bundesverwaltungsgericht definiert also juristisch, was den Politikerinnen und Politikern in ihren Sonntagsreden immer sehr leicht von den Lippen geht, aber kaum je eine Rolle spielt, wenn es darum geht, das auch konkret umzusetzen: Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen. Es unterbindet damit jene bisher übliche politische Praxis, ambitionierte Fernziele zu definieren, die so weit in der Zukunft liegen, dass sie niemanden wirklich verpflichten; die Nahziele aber so tief anzusetzen, dass sie keinem wehtun. Sollen doch die künftigen Generationen von Politikerinnen und Politikern sehen, wie sie dereinst mit der Sache fertigwerden.

Das Bundesverwaltungsgericht betritt mit diesem Urteil juristisches Neuland, das weit über die Klimadebatte hinausweist. Standen bisher in vielen Debatten, etwa auch im Streit um Coronamassnahmen, fast ausschliesslich die individuellen Freiheitsrechte im Vordergrund – etwa die Freiheit, eine SUV-CO2-Schleuder zu kaufen, wie irr um die Welt zu jetten oder andere mit Covid-19 anzustecken -, so stellt das Gericht diesen «Freiheitskämpfern» kollektive Freiheitsrechte gegenüber, die vom Staat ebenfalls geschützt werden müssten. Das heisst: Wo die Ressourcen knapp sind, wo nur ein begrenztes Kontingent an Freiheit zur Verfügung steht, muss der Staat diese Freiheit des Kollektivs schützen und entscheiden, wie dieses Budget für alle und auch zukunftsweisend gerecht verteilt wird, sei das mit marktwirtschaftlichen Mitteln, also einem regulierenden CO2-Preis, sei es mit Einschränkungen und Verboten. Eine brisante verfassungsrechtliche Ansicht, die neue, heikle, bisher kaum diskutierte Fragen aufwirft.

«Ein wegweisendes Urteil»

Trotzdem stiess das Urteil des Verfassungerichts überraschenderweise auf breite Zustimmung: «Ein bedeutendes, ein wegweisendes Urteil», «epochal für den Klimaschutz» etc., twitterten und schrieben die Kanzlerin Angela Merkel (CDU), der Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und andere Prominenz der Koalition. Und die Parteien, von SPD und Grünen bis zur CDU und CSU, überboten sich mit neuen, strengeren Reduktions-Vorschlägen. Ein halbes Jahr vor den Bundestagswahlen, wo das Klima ein entscheidendes Wahlkampfthema sein wird, will sich niemand lumpen lassen. Und auch die Bundesregierung drückt aufs Tempo und will noch vor der Bundestagswahl neue Ziele vorlegen: Minus 65 Prozent (statt 55 wie bisher) bis 2030, minus 88 Prozent bis 2040, Netto-Null bis 2045. Wie das in der kurzen noch zur Verfügung stehenden Zeit geschehen soll – am 25. Juni verabschiedet sich der Bundestag in die Sommerpause, danach ist nur noch Wahlkampf -, weiss zur Zeit niemand genau. So oder so aber wird das Urteil des Gerichts der Klimadebatte, auch der internationalen, neuen Schub verleihen und auch die Diskussionen am Klimagipfel von Glasgow im November wesentlich beeinflussen. Und: Wenn Gerichte in anderen Ländern, wo Klimaaktivisten gegen ihren Staat klagen, die Begründung des deutschen Verfassungsgerichts übernehmen. bekommt die internationale Klimaschutzbewegung ein starkes Argument in die Hand, um ihr «Recht auf eine unversehrte Zukunft» durchzusetzen.

Und die Schweiz?

Die Schweiz wird, selbst wenn das CO2-Gesetz angenommen wird, noch mehr zu einem der Schlusslichter im internationalen Klima-Ranking, auch wenn Umweltbotschafter Franz Perrez wider besseres Wissen in Interviews blufft, die Schweiz gehöre zu den Pionieren im Kampf gegen den Klimawandel, und das Schweizer Klimaziel sei ganz «im Einklang mit den Empfehlungen des Weltklimarates IPCC ist: Halbierung der Emissionen bis 2030 und Klimaneutralität bis 2050.» Denn nicht einmal die puren Fakten sind richtig: Die Schweiz, eines der wenigen Länder, das sich mit Auslandkompensationen aus der Verantwortung schleichen will, wird bis 2030 ihre eigenen Emissionen weder um 65 noch um 50 noch um 40, sondern lediglich um mickrige 37.5 Prozent verringern. Die restlichen 12.5 Prozent der Reduktionen will sie im Ausland einkaufen. (CR)