Am vergangenen Sonntag (9. Mai) eröffneten der französische Präsident Emmanuel Macron und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Strassburg die erste «Konferenz zur Zukunft Europas». Was vielleicht bloss als PR-Aktion für die angeschlagene EU gedacht war, könnte aber dennoch grosse Folgen haben: Es legitimiert eine  neue Art der Bürgerbeteiligung, die das mikrige Trauerspiel etwa um die völlig ungenügende Schweizer Klimapolitik wieder neu beleben könnte. 

Die einfachste Erklärung, wie Politik funktioniert, lautet: «Die da oben machen ohnehin was sie wollen.»  Was immer an dieser Erklärung richtig oder falsch sein mag, eines lässt sich nicht wegschweigen: Die «Politikverdrossenheit», das Misstrauen gegenüber den Politikerinnen und Politikern, das belegen alle Meinungsumfragen, hat in den letzten Jahren massiv zugenommen: Im März dieses Jahres hatten laut dem Statistik-Portal «statista» nur noch 49 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in die politischen Institutionen der Schweiz. «Volles Vertrauen» hatten gar nur 15 Prozent. Das Ansehen der Politiker beim «Volk» hat einen absoluten Tiefpunkt erreicht.

Eigentlich müsste dieser Befund alle Alarmglocken in allen Parteizentralen in grösstmöglicher Lautstärke schrillen lassen. Denn was könnte noch Schlimmeres geschehen als dass die Bürgerinnen und Bürger denjenigen nicht mehr vertrauen, die für ihre Sicherheit, ihren Wohlstand, ihre Renten, ihre Zukunft sorgen sollen. 

Keine Besserung in Sicht

Es schrillen aber keine Alarmglocken. Allenfalls bekunden da und dort einige Politiker jeweils nach Bekanntwerden solcher Meinungsumfragen, ja, man werde sich wohl  etwas bemühen müssen, die Glaubwürdigkeit gegenüber dem Volk wieder zurückzuerlangen. Damit meinen sie aber nicht, dass sie ihr Verhalten ändern sollten, sondern bloss, dass sie es etwas professioneller «rüberbringen» müssten, durch eine aufpoliertere Kommunikation auf Facebook und Twitter, durch ein mühsam antrainiertes «authentisches» Auftreten im Fernsehen und durch Homestories in der Boulevardpresse. 

Ansonsten wimmeln sie ab. Das sei schon immer so gewesen, Politik sei halt ein undankbares Geschäft, und wer sich für die Allgemeinheit «aufopfere», müsse ertragen, dass er es nicht allen recht machen könne.

Das «Volk» darf auf der Tribüne zuschauen

Das sind aber, pardon, faule Ausreden. Denn die Bürgerinnen und Bürger haben mehr als nur ein bisschen Grund für ihr Misstrauen. Seit bald 30 Jahren, spätestens seit der Volksabstimmung zum EWR-Beitritt bemühen sich Bundesrat und Parlament vergeblich, die Beziehungen der Schweiz zur EU vernünftig zu gestalten. Seit 20 Jahren versucht das Parlament, ebenfalls vergeblich, die AHV auf eine langfristig solide Basis zu stellen. Seit 27 Jahren schaffen es die Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht, die vom Volk angenommene Alpeninitiative umzusetzen. Nur drei Beispiele unter vielen. An die Gleichstellung von Mann und Frau wagt man schon gar nicht mehr zu denken.

Ebenso problematisch ist noch etwas Anderes: Wo immer die Parlamente über Volksinitiativen oder Gesetze verhandeln und streiten, hat das «Volk» nur einen Platz auf der Tribüne. Erst wenn alle Schlachten geschlagen, alle parlamentarischen Machtspiele ausgetragen, alle möglichen Kompromisse ausgehandelt sind, darf das Volk zu dem, was am Ende übrigbleibt, Ja oder Nein sagen. Im Falle der Revision des CO2-Gesetzes: keine gewöhnliche Bürgerin, kein gewöhnlicher Bürger hatte eine wirkliche Möglichkeit, nach dem Entwurf des Bundesrates vom Dezember 2018 ernsthaft mitzureden. Niemand, auch nicht die Basismitglieder der Grünen oder der SP, konnten wirklich mitbestimmen, als ihre Parteiführungen nach der ersten Runde beschlossen, wegen einiger Mini-Zugeständnisse der FDP und der Mitte-Parteien plötzlich ihre Meinung um 180 Grad zu ändern und neu für statt gegen das halbbatzige Gesetz zu sein.

Und wer das CO2-Gesetz an der kommenden Abstimmung eigentlich ablehnen möchte, weil es ihm zu wenig weit geht, hat keine Möglichkeit, dies explizit und unzweideutig zur Geltung zu bringen. Wundert sich da noch jemand, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen ins Funktionieren unserer parlamentarischen Demokratie verlieren?

Plädoyer für eine «deliberative Demokratie»

Die Wissenschaft hat dieses Demokratie-Defizit schon lange erkannt und diskutiert unter dem Stichwort «Deliberative Demokratie», wie sich die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an solchen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen verbessern liesse. (Um vorschneller Kritik zu entgegnen: Es geht dabei nicht um irgendwelche dubiosen umstürzlerischen Ideen zur Abschaffung der Demokratie, sondern schlicht und einfach darum, das doch etwas überalterte, 150jährige Demokratie-Modell des Postkutschen-Zeitalters zu reformieren, den neuen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und technologischen Gegebenheiten, Erfordernissen und Möglichkeiten des 21. Jahrhundert anzupassen.) 

 Eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Bürgerinnen und Bürger vermehrt zu Wort kommen zu lassen, sind Bürgerräte. Die Grundidee ist einfach und einleuchtend. Eine Gruppe von 100 bis 200 nach dem Zufallsprinzip, aber in Bezug auf Geschlecht, Alter, Bildung, Beruf , Einkommen etc. repräsentativ ausgewählter Bürger, bildet sich innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens eine Meinung zu einem bestimmten politischen Geschäft. Die professionell moderierte Gruppe lädt eine Reihe von Experten und Wissenschaftler, Interessenvertreter von Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und anderen für das entsprechende Problem relevanten Gruppierungen und Bewegungen ein, lässt sich von ihnen orientieren, beraten und diskutiert mit ihnen. Alle Sitzungen sind öffentlich, es gibt keine verschwiegenen Kommissionen und Hinterzimmer für heimliche Absprachen und Mauscheleien. Nach getaner Arbeit löst sich die Gruppe wieder auf. 

Beiräte sind unabhängiger als Parlamente

Die Vorteile solcher Bürgerräte liegen auf der Hand: 

  • Da die Teilnahme nicht freiwillig, sondern verpflichtend ist, sorgt die zufällige, aber repräsentative Auswahl dafür, dass nicht bloss die am Thema speziell Interessierten, sondern alle gesellschaftlichen Gruppierungen an der Meinungsbildung beteiligt sind, auch die Nichtwähler, die Politikverdrossenen und «Unpolitischen». Also nicht plus/minus 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung, sondern 100 Prozent.
  • Da alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer nur sich selbst vertreten und ihre Ratsarbeit sowohl inhaltlich wie zeitlich beschränkt ist, unterliegen sie nicht den sonst üblichen Zwängen jener Politikerinnen und Politiker, die wiedergewählt werden wollen und deshalb den Interessen ihrer Partei und Klientele folgen müssen. 
  • Die mächtigen Interessenvertreter von Wirtschaft und Gewerkschaft, die rechten und linken Lobbyisten, die Lautsprecher konservativer Gruppierungen, aber auch der progressiven Bewegungen werden angehört, sitzen aber nicht selber in den Bürgerräten. Es gibt zwischen den Teilnehmern kaum ein Machtgefälle. Das «Erpressungspotenzial» der einzelnen Ratsmitglieder ist minimal. Es zählt nicht Macht, es zählen Argumente.

Kurz gesagt: Die Meinungsbildung wird nicht durch Machtspiele und Drohungen beeinflusst – «ohne die Gewerkschaften, die Arbeitgeber oder die Bauern kriegen wir das Geschäft im Parlament nicht durch» -; was zählt, sind die besseren Argumente, ist die Bereitschaft, der Gegenseite zuzuhören, allenfalls sogar die Meinung zu ändern, auf das Gemeinwohl Rücksicht zu nehmen. Im Gegensatz zur institutionellen Politik, die zumindest in Wahlkampfzeiten davon lebt, die Differenzen zu betonen, die Spaltung der Bürgerinnen und Bürger zu betreiben, ist die Arbeit der Bürgerräte auf Konsens ausgerichtet.

Das alles sind, zugegeben, Idealvorstellungen und es besteht keine Garantie, dass Bürgerräte immer und überall zu besseren Lösungen führen Die Erfahrungen, die man seit Jahren mit Bürgerräten macht, sind allerdings eindrücklich: Empirische Studien in vielen Ländern zeigen, schrieb der Berner Politikwissenschafter Jürg Steiner schon vor Jahren, «dass gewöhnliche Bürger sich eher deliberativ verhalten als politische Eliten. Wenn man die gleichen Fragen, die von den politischen Eliten als Machtspiel angegangen werden, Gruppen von gewöhnlichen Bürgern zur Diskussion unterbreitet, ist der deliberative Gehalt meist höher.» Und Steiner belegt das in seiner Studie «The Foundation of Deliberative Democracy» an zahlreichen Beispielen etwa aus Deutschland, Belgien, Italien und Kanada: Überall waren die Teilnehmer an solchen Bürgerdiskussionen viel schneller als die Politiker bereit, sich auf Argumente einzulassen, festgefahrene Positionen in Frage zu stellen, sich überzeugen zu lassen und gemeinsam Lösungen zu finden.

Nicht zufällig wird der Ruf nach Bürgerräten immer lauter – und von der Politik zuweilen sogar erhört. In Deutschland arbeitet seit dem 26. April ein bundesweiter Bürgerrat an Empfehlungen für die Klimapolitik der nächsten Legislaturperiode. In Österreich beschloss der Nationalrat ebenfalls im April die Bildung eines nationalen Klimarats. In Grossbritannien erarbeitete im vergangenen Jahr ein Klimarat Prinzipien und konkrete Vorschläge.

In Frankreich führte Präsident Macron ebenfalls bereits 2020 einen ersten «Bürgerkonvent für das Klima» durch. Die ausgewählten Bürgerinnen und Bürger, vermutlich kaum alles «Öko-Terroristen», kamen zu überraschend radikalen Ergebnissen, etwa: Kurzstreckenflüge sollten verboten werden, genauso der Bau von neuen Flughäfen oder Werbung für klimaschädliche Produkte wie Autos. Klimaschutz-Maßnahmen sollten durch eine Klimasteuer für Reiche finanziert werden etc.

Klar, noch ist in allen diesen Fällen nicht entschieden, wie die Ergebnisse solcher Bürgerforen umgesetzt werden sollen, ob sie bloss als «Anregung» für die Politikerinnen und Politiker gelten sollen, oder aber direkt in den politischen Entscheidungsprozess «eingespeist» werden, indem – im Extremfall – die Bevölkerung unmittelbar darüber abstimmen kann. Aber ein Anfang ist gemacht. Es liegt jetzt vor allem an der Klimastreikbewegung und den Umweltverbänden, dass solche Klimaräte eingesetzt und ihre Vorschläge oder Forderungen mehr als nur ein Alibi sind. Von den Politikerinnen und Politikern ist keine allzu heftige Unterstützung zu erwarten. Wer, der auf seine Wichtigkeit und Unverzichtbarkeit pocht, wird schon Bestrebungen unterstützen, die ihn etwas unbedeutender machen als er sich selber sieht?

Die Schweiz braucht dringend einen starken Klimarat!

Entgegen den andauernden Beteuerungen des Bundesrates knarzt es seit langem im Austausch zwischen den Klimawissenschaftern und den zuständigen Bundesbehörden: Die Klimawissenschafter fühlen sich zu Recht nicht ernstgenommen. Eine Klima-Taskforce, ein beratendes Gremium für die Politik, existiere zwar, aber praktisch nur auf dem Papier, moniert der Zürcher Klimaforscher Reto Knutti schon seit Jahren. Jetzt aber wollen die Wissenschafter aktiver als bisher Politik und Gesellschaft über den Klimawandel informieren – und das mit einem klaren Auftrag des Bundes und ohne Maulkörbe, wie der «Beobachter» kürzlich schrieb. «Wir wollen künftig Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit näher begleiten», sagt Oliver Inderwildi. der Leiter von Proclim, dem Forum für Klima und globalen Wandel der Schweizer Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT). Ob sich die vielseitig mit der Auto-, Flug-, Fossil- und Agrar-Lobby, der Finanzwirtschaft, dem Gewerbe- und Hauseigentümerverband verbandelten Parlamentarier dadurch sehr beeinflussen lassen, steht auf einem anderen Blatt. Denn so oder so: Die Klimawissenschafter bleiben in ihrer Rolle als Berater gefangen und können im parlamentarischen Betrieb selber nicht aktiv mitreden und mitbestimmen. Deshalb braucht es neben einer Klima-Taskforce einen Klimarat, der selber im Namen der Bürgerinnen und Bürger und nicht irgendwelcher Interessengruppen Politik macht.

Die Grüne Partei fordert einen Klimarat

In der Schweiz fordert neben der Klimastreikbewegung vor allem die Grüne Partei einen Klimarat. Sie hat im vergangenen September dazu eine schon ziemlich detaillierte Parlamentarische Initiative eingereicht, die schärfste und schnellste «Waffe» des Parlamentsbetriebs, da sie sich nicht an den Bundesrat wendet, sondern direkt vom Parlament resp. den zuständigen Kommissionen behandelt werden muss. Der Klimarat soll «mehrheitsfähige Lösungen für den Klimaschutz und für mehr Klimagerechtigkeit erarbeiten». Er soll 200 nach den oben genannten Verfahren ausgewählte Personen umfassen und spätestens nach sechs Jahren wieder neu besetzt werden

Noch nicht definitiv festgelegt haben sich die Grünen in Bezug auf die Kompetenzen des Klimarats. Er kann mindestens Resolutionen verabschieden, Motionen und parlamentarische Initiativen beschliessen, welche analog zu Kommissionsvorstössen von Bundesrat und Parlament beschleunigt behandelt werden müssen. Und er kann Anträge auf eine Verfassungsänderung stellen, die dann wie eine Volksinitiative durch Bundesrat und Parlament beraten wird. Beide Möglichkeiten – und das ist der zentrale Schwachpunkt des Grünen-Vorschlags – enden zuletzt also wieder im üblichen parlamentarischen Betrieb, dem man mit der Schaffung eines Klimarates doch eigentlich entgehen wollte. Als dritte Möglichkeit aber sieht der Vorschlag der Grünen immerhin vor, dass die vom Klimarat erarbeiteten Lösungen direkt und ohne parlamentarische Behandlung und Empfehlung zur Volksabstimmung gebracht werden. 

Aufschlussreich – und im Gegensatz zu den übrigen Parteien sogar etwas selbstkritisch – die Begründung des grünen Parteipräsidenten Balthasar Glättli; der Klimarat, meint er, schaffe die «Möglichkeit, die Stimmberechtigten auch über Fragen abstimmen zu lassen, die zu stellen eine Mehrheit unseres Parlaments bisher nicht den Mut hatte». (CR)

Kleiner Nachtrag (25. Juni 2021)

Die deutsche Wochenzeitschrift Die Zeit hat am Donnerstag dem deutschen Bürgerrat Klima eine ganze Doppelseite gewidmet. Obwohl die Reportage im zuweilen etwas langweiligen und langfädigen Storytelling-Ansatz geschrieben ist, lohnt sich die Lektüre. Hier der Link: https://www.zeit.de/2021/26/buergerrat-klima-empfehlungen-klimaschutz-parteien