Zum Stammrepertoire der sogenannten Realpolitiker gehört die Behauptung, eine Sache sei nicht mehrheitsfähig. Bloss: Wer bestimmt denn eigentlich, was mehrheitsfähig ist? Und: Was verbirgt sich hinter dem Begriff, der längst nicht so klar ist, wie es scheint?
«Wir würden ja gern», las und hörte man schon weit vor der Abstimmung über das CO2-Gesetz täglich mehrfach von rechts bis links, sowohl in den (schon fast gleichgeschalteten) Medien als auch von den Umweltverbänden und rotgrünen Politikerinnen und Politikern, von den Initianten der Gletscherinitiative bis hin zu prominenten Klimawissenschaftern – «wir würden ja gern eine viel wirkungsvollere Klimapolitik betreiben, wenn diese nur beim Stimmvolk mehrheitsfähig wäre».
Das Argument klingt plausibel, es ist eine tautologische Binsenwahrheit: In einer Demokratie haben logischerweise nur Vorhaben eine Chance, die von einer Mehrheit der Stimmbürgerinnen und -bürger gutgeheissen werden. Der Haken an der Sache ist bloss, dass man immer erst nach der Abstimmung weiss, ob eine Initiative, ein Gesetz mehrheitsfähig war. Argumentiert wird mit der Mehrheitsfähigkeit aber vor allem vor den Abstimmungen.
Wer bereits bei der parlamentarischen Behandlung oder im Abstimmungskampf mit der Mehrheitsfähigkeit argumentiert, der spekuliert. Daran ändern auch Meinungsumfragen nichts; immer wieder mal haben die Stimmbürgerinnen und -bürger «mehrheitsfähige» Vorlagen bachab geschickt und umgekehrt.
Die Mehrheitsfähigkeit ist ein Kampfbegriff
Das heisst: Vor der Abstimmung ist das Argument der Mehrheitsfähigkeit vor allem auch ein Kampfbegriff, der mannigfachen Zwecken dient: Als Drohung an andere, nicht zu weit zu gehen, als Rechtfertigung, dass man zu wenig weit geht, zur Diffamierung von lästigen Bewegungen, die man so als irrationale Naivlinge blosszustellen versucht.
Wir wissen aber auch: Die Mehrheitsfähigkeit kann sich innert Wochen schlagartig ändern. Zwei Tage vor Fukushima hat in Deutschland niemand geglaubt, dass der Atomausstieg wenige Wochen danach mehrheitsfähig sein wird. Als die ersten Bilder von Greta Thunberg in den Medien auftauchten, lachte sich die halbe Welt fast kaputt – bis ihnen dann das Lachen verging. Auch die Gletscherinitiative – man erinnert sich an all die «Experten», Meinungsbefrager und Kommentatoren, die lauthals verkündeten: Tolle Sache, aber nie und nimmer mehrheitsfähig.
Vermutlich aber beschäftigen sich die Realpolitikerinnen und -politiker einfach mit der falschen Frage. Denn es geht letztlich nicht darum, was mehrheitsfähig ist, sondern was mehrheitsfähig werden soll. Das würde zu einer ganz anderen Politik führen als der bisherigen. Zu einer Politik, die sich nicht vorschnell zufriedengibt, mit Ausflüchten defätistisch lähmt, sondern Engagement herausfordert und entfacht, dem besseren Argument vertraut und den Stimmbürgerinnen und -bürgern zutraut, dass sie trotz Verunsicherung durch manipulative Argumente letztlich doch zu vernünftigen Entscheidungen fähig sind..
Die Sache mit der Glaubwürdigkeit
Mit der Mehrheitsfähigkeit eng verbunden ist ein zweites Problem: die Glaubwürdigkeit. Warum eigentlich ist Greta Thunberg glaubwürdig, warum die Klimabewegung, auch wenn sie steile Thesen aufstellen, die kaum jemand für mehrheitsfähig hält?
Thunberg und die Klimajugendlichen haben vor zwei Jahren innert Monaten Hundertausende mobilisiert und so begeistert, dass sie es bis ans WEF, bis an die wichtigsten Klimakonferenzen und in die UN-Vollversammlung schafften. Kaum eine Politikerin, ein Politiker, von Antonio Guterres und Angela Merkel bis Simonetta Somaruga, die die sich nicht, anbiedernd lächelnd, mit den Klimaaktivistinnen ablichten liess und bekannte: «Wir haben verstanden!» Und gleichzeitig versuchte, die Klimaschutzbewegung mit Hilfe einer teilweise schon fast geifernden Presse (Weltuntergangssekte, Fantasten, unzurechnungsfähige Teenager, marxistisch unterwanderte Fanatiker – alles Zitate aus der NZZ und den Tamedia-Zeitungen) als unglaubwürdig zu diffamieren. Vergeblich. Oder bei vielen ernsthaften Unterstützerinnen und Unterstützern gar mit gegenteiligem Effekt: Die Kritiker machten sich selber unglaubwürdig.
Glaubwürdig sind Greta Thunberg und die Klimaaktivisten, weil sie konsequent vertreten, was sie für richtig und vor allem für notwendig halten. Weil sie nicht ihr Fähnchen nach dem Wind hängen. Weil sie nicht das Pferd von hinten aufzäumen und zuerst fragen, ob es mehrheitsfähig sei oder nicht, ob es bei den nächsten Wahlen ein paar Stimmen mehr generiert oder nicht. Sie müssen sich auch nicht wie viele Politikerinnen und Politiker drehen und winden, wenn sich ihre Argumente als Ausreden entlarven, ihr Credo „Ungenügend, aber in die richtige Richtung» sich in Luft auflöst.
Unglaubwürdigkeit bleibt lange an einem hängen
Glaubwürdigkeit ist eine Investition in die Zukunft. Wer sie verspielt hat, wer zu oft das Eine sagt und das Gegenteil macht, zu oft etwas versprochen und nicht eingehalten hat, wird es in Zukunft schwer haben. Petra Gössis Trickserei mit dem grünen Mäntelchen wird der FDP zumindest in der Klimapolitik noch über Jahre schaden.
Ebenso die grossmäuligen Versprechen der früheren Grünen-Präsidentin Regula Rytz, man werde den Bürgerlichen nach den Wahlen «Feuer unter dem Hintern machen», das sie nach den Wahlen klammheimlich unter den Tisch fallen liess, weil es ihre Chancen als mögliche Bundesratskandidatin hätte beschädigen können. Und auch ihr Nachfolger Balthasar Glättli macht der Klimabewegung immer wieder halbherzige Avancen und geisselt sie zugleich als weltfremde Spinner. Nicht von ungefähr fühlten sich die Kimaaktivistinnen und -aktivisten benutzt und belogen. Man habe ihnen das Blaue vom Himmel versprochen und nichts davon geliefert: «Wir wurden im Stich gelassen.» Die Grünen (und auch die SP) werden einiges tun müssen, um ihre Glaubwürdigkeit gegenüber jenen zurückzugewinnen, die in fünf, zehn Jahren die Schweizer Klimapolitik bestimmen werden. Etwa indem sie für einmal standhaft bleiben und für das kämpfen, was sie versprochen haben, auch wenn die bürgerlichen Parteien drohen, ihre Vorschläge seien nicht mehrheitsfähig. (CR)