Am 29. Juli hat die Menschheit, etwas salopp formuliert, so viel «Natur» verbraucht, wie sämtliche Ökosysteme in diesem Jahr auf natürliche Weise regenerieren können. Von nun an betreiben wir bis zum Jahresende Raubbau an der Natur. Und kaum jemand interessiert’s.
Keine der grossen Schweizer Tageszeitungen ausser dem Blick und der Südostschweiz fanden es wichtig genug, ihren Leserinnen und Leser die unangenehme Nachricht mitzuteilen, dass sie im vergangenen Jahr wieder tatkräftig mitgearbeitet haben, unsere eigenen Lebensgrundlagen weiter zu zerstören. Vor 20 Jahren fiel der weltweite Erdüberlastungstag noch auf den 25. September. Und es gibt keine Anzeichen, dass sich diese Entwicklung in den nächsten Jahren bremsen liesse.
Dabei ist der Overshoot Day, der jedes Jahr vom Global Footprint Network berechnet wird und aufzeigt, wie sehr die Menschheit über ihre Verhältnisse lebt, noch der freundlichste Indikator unserer mutwilligen Zerstörungswut. Denn: Würden nicht die zahlreichen armen Entwicklungsländer Lateinamerikas und Afrikas den Weltdurchschnitt massiv herunterdrücken, wäre die Bilanz noch weit verheerender. Die Schweiz etwa erreichte ihren nationalen Overshoot Day bereits am 11. Mai. Sie befindet sich damit in bester Gesellschaft mit den meisten reichen Industrieländern, die fast alle ihr «Konto» ebenfalls regelmässig schon im Frühling aufgebraucht haben.
Wir überlassen unsere aktuellen Probleme den künftigen Generationen
Die Realität ist aber noch schlimmer, denn eigentlich liegt der Overshoot Day irgendwo anfangs der 1970er Jahre. Seither, also seit rund 50 Jahren überziehen wir unser Schuldenkonto gegenüber der Natur Monat für Monat, ohne ernsthaft darüber nachzudenken, wie wir diese Schulden in den kommenden fünfzig oder hundert Jahren wieder abbauen können. Das heisst: Wir schädigen nicht bloss die globalen Ökosysteme in unvorstellbarem Mass und kaum wiedergutzumachender Weise, sondern überlassen es den künftigen Generationen, damit irgendwie fertig zu werden.
Zu den Rechtfertigungen dieser durchaus bewussten Verantwortungslosigkeit – niemand wird später behaupten können, er habe es halt nicht gewusst! – gehören jene immer noch dominierenden ökonomischen Theorien, dass Wirtschaft ohne Wachstum unmöglich sei oder den Menschen unzumutbare Wohlstandsverzichte abverlange. Oder – eine genau so trügerische Theorievariante – dass sich die Probleme durch Effizienzsteigerungen, durch innovative Technologien und die Substitution natürlicher durch künstlich hergestellte Ressourcen durchaus lösen liessen. Die Realität beweist allerdings das Gegenteil, nämlich dass fast all diese Effizienzgewinne durch den sogenannten Rebound-Effekt wieder zunichte gemacht werden. (Etwa: Was durch verbrauchsärmere Automotoren eingespart wird, machen die Konsumenten wieder wett, indem sie grössere, schwerere Fahrzeuge mit stärkeren Motoren kaufen oder das eingesparte Geld für anderweitigen nicht nachhaltigen Konsum ausgeben).
All diese nicht ganz einfachen Zusammenhänge erklärt die deutsche Nachhaltigkeitsforscherin und Politökonomin Maja Göpel in ihrem brillanten und verständlich geschriebenen Buch «Die Welt neu denken» (erschienen im Ullstein Verlag)
Wegschauen bis unsere eigenen Städte und Dörfer verwüstet werden?
Zu den Rechtfertigungen, die Bevölkerung nicht mit solchen schlechten Nachrichten zu behelligen, gehört auch die populistische Behauptung, die Stimmbürgerinnen und -bürger, die Landbevölkerung, die Jungen oder die Alten, die Autofahrer, die Vielflieger oder wer auch immer, seien leider noch nicht so weit, die Notwendigkeit und Dringlichkeit von strengen Massnahmen zu akzeptieren. So lange die eigenen Städte und Dörfer nicht durch Fluten und Stürme verwüstet würden, so lange die einheimischen Wälder nicht in Flammen stünden, die Äcker geflutet und die Skigebiete dauerhaft völlig schneefrei seien, sei das Volk ohnehin nicht bereit, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Erst wenn die Menschen unmittelbar an Leib und Leben bedroht seien, seien sie vielleicht sogar bereit, Umwelt- und Klimaschutz ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln.
Dabei ist es längst so weit. All die täglichen Katastrophenmeldungen lassen keinen Zweifel offen, dass wir bereits mitten in der grössten Klima- und Umweltkatastrophe seit Zehntausenden von Jahren stecken. Und dass diese in den nächsten Jahrzehnten bei allen Wetterschwankungen immer weiter zunehmen wird, immer mehr Schäden, immer mehr Unglück anrichten wird.
Wie die Medien unsere Sicht vernebeln
Mitverantwortlich für diese fatalistische Gleichgültigkeit sind neben den zögerlichen Parteien mitunter auch die Medien. Zwar rapportieren sie fleissig alle Waldbrände, Flutkatastrophen und Hitzerekorde auf der Welt, die Gletscherschmelze wie den Meeresspiegelanstieg, immer spektakulär garniert mit herzzerreissenden Bildern und Reportagen, den perfekt inszenierten Politikerauftritten und mit Spendenaufrufen. Hin und wieder finden auch Berichte über neue alarmierende Klima- und Umweltstudien den Weg in die Zeitungen.
Bloss: Solange auf jeden Katastrophenbericht ein beschwichtigender Leitartikel oder ein Gastkommentar eines Vertreters der Öl-, Auto- und Hausbesitzer-Lobby folgt, wird jede schlechte Nachricht sogleich neutralisiert. Und kaum eine Journalistin, kaum ein Journalist fragt unerbittlich nach, wenn Bundesrätinnen und Politiker wieder einmal mehr ankündigen, man werde jetzt schleunigst ein Gesetz ausarbeiten, das nichts kostet und allen gefällt, aber auch die Umwelt und das Klima rette. Das heisst: Solange die Medien ihren Leserinnen und Lesern keine Meinung, sondern eine breite Meinungspalette anbieten, wo jeder das ihm Passende findet, solange sie ihre Interviewpartner einfach plaudern lassen, tragen sie mehr zur Verunsicherung und Verwirrung bei als zur Meinungsbildung. Keine Zeitung ist verpflichtet, jedem Gegacker, jedem Unsinn Platz einzuräumen, mit Presse- und Meinungsfreiheit hat das nichts zu tun. (CR)
Kleine Nachbemerkung: Inzwischen hat der Tages-Anzeiger immerhin als Kommentar zu einer nicht vorhandenen Meldung einen Text aus der Süddeutschen Zeitung vom 29. Juli abgedruckt.