Es sei, klagen viele Parteifunktionäre, in der Klimapolitik wie verhext: Obwohl die Parteien sich alle Mühe geben würden, das Volk «abzuholen», wolle das Volk partout nicht «abgeholt» werden. Nicht einmal das mehrheitstaugliche CO2-Gesetz habe es akzeptieren wollen. Die heisse Frage ist: Liegt das nur am widerborstigen Volk oder vielleicht auch an der unverständlichen Klimapolitik der Parteien und des Bundesrates?

Wer sich mit Klimapolitik befasst, braucht viel Zeit und einen fast schon masochistischen Durchhaltewillen. Das vom Volk abgelehnte CO2-Gesetz umfasste in elf Kapiteln 87 Artikel, unterteilt in mehrere hundert Einzelbestimmungen. Die Botschaft des Bundesrates zum direkten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative vom 11. August erklärt in sieben Kapiteln auf 48 Seiten, warum der Bundesrat die Gletscherinitiative ablehnt, obwohl es letztlich nur um Details geht. Man fragt sich, ob ausser den Verfassern mehr als ein paar hundert Stimmbürgerinnen und -bürger diese Texte, immerhin die beiden wichtigsten offiziellen Dokumente zur aktuellen Klimadebatte, auch wirklich gelesen haben. Und man fragt sich: Wie eigentlich soll das Volk sich zurechtfinden in einem Paragrafendschungel voller versteckter Fallgruben und Formelkompromisse, die zugleich alles bis ins Detail und zugleich nichts regeln, weil viele «kann»-Formulierungen es letztlich dem Bundesrat überlassen, wie er sie auslegen und vollziehen will?

Allerdings: Auch die Jugendlichen der Klimastreikbewegung sind während der Pandemie nicht ganz untätig geblieben; ihr Climate Action Plan (CAP) erklärt und begründet im englischen Originaltext auf rund 300 Seiten insgesamt 138 Forderungen; die deutsche Zusammenfassung auf 50 Seiten wirkt demgegenüber geradezu wortkarg. Der Aktionsplan, heisst es in der Einleitung, «ist an die Bevölkerung gerichtet. Wir wollen alle Teile der Gesellschaft motivieren, mit uns nach den richtigen Lösungen zu suchen.» Man ahnt, dass das Echo nicht gerade berauschend gross war.

Die aktuelle Debatte ist also äusserst komplex; es geht um Emissionen, erneuerbare Energien und futuristische Technologien, um Subventionen und Lenkungsabgaben, um Zertifikatehandel und Auslandkompensationen, um Finanzströme, um Ungerechtigkeit und Eigenverantwortung, um liberale Unternehmerfreiheit versus «sozialistisch regulierende Ökodiktatur», und vieles mehr. Man sieht, wie es im Volksmund heisst, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.

Es gibt nur einen Weg: Ein verbindlicher Reduktionsplan bis 2050

Manchmal hilft in solchen Situationen, ein, zwei Schritte zurückzutreten und sich zu fragen, worum es denn im Kern eigentlich geht. Die Antwort ist zuerst einmal lapidar einfach: Die Schweiz muss in den kommenden zwei, zweieinhalb Jahrzehnten ihre Treibhausgasemissionen auf Null herunterfahren. Dazu verpflichtet uns nicht bloss das Pariser Klimaabkommen, das die Schweiz unterzeichnet hat, sondern, wie der diesjährige Sommer eindrücklich beweist, auch der gesunde Menschenverstand. Denn wenn nicht jedes einzelne Land im Minimum «seinen» Beitrag leistet, werden nicht nur Hunderte von Millionen Menschen in Afrika, Asien oder Lateinamerika, sondern auch unsere eigenen Kinder und Enkel hierzulande mit den verheerenden Folgen der  Klimakatastrophe leben müssen. Wer das «Alarmismus» oder «moralisches Gutmenschentum» nennt, hat noch immer nicht begriffen, was uns bevorsteht.

Deshalb bekennen sich mittlerweile fast alle Parteien, sogar Teile der SVP, und viele Unternehmerverbände zum Klimaziel Netto Null bis 2050. Allerdings, wenn das nicht bloss Lippenbekenntnisse für Wahl- und Sonntagsreden sein sollen, sondern alle Parteien und Vebände ernsthaft so handeln wollen wie sie reden, gibt es nur einen Weg, dieses Klimaziel auch zu erreichen: einen verbindlichen Reduktionsplan mit jährlichen Zielen bis 2050 und einen Steuerungsmechanismus, der garantiert, dass dieser Reduktionspfad auch eingehalten wird. Dieser Steuerungsmechanismus kann durchaus alle möglichen marktwirtschaftlichen Elemente enthalten, er muss aber mit Regulierungen und selbst Verboten reagieren können, wenn die marktwirtschaftlichen Mittel nicht oder nur ungenügend funktionieren, das heisst: die verbindlichen Reduktionsziele damit nicht erreicht werden. 

Damit der Reduktionspfad tatsächlich eingehalten wird, müssen die Emissionen in kurzen Abständen überprüft werden, damit sehr rasch reagiert werden kann, wenn sie zu langsam sinken. Dabei ist ein scheinbar kleines, lapidares Detail nicht unwichtig: Die Vorgaben und Resultate sollten nicht in Prozenten, sondern in absoluten Zahlen angegeben werden – also etwa «minus 23 Millionen Tonnen CO2 bis 2030» statt «minus 50 Prozent». Prozentzahlen vermitteln ein sehr ungenaues, eher verharmlosendes Bild der realen Verhältnisse und lassen sich schwer vergleichen.

Gesteuert werden kann die Einhaltung nicht nur, aber hauptsächlich durch einen einheitlichen, für alle Sektoren gleichen CO2-Preis. Wird der Reduktionspfad nicht eingehalten, steigt der Preis so lange an, bis sich die Emissionen wieder auf dem festgelegten Pfad bewegen. Die «Akteure» haben es also durchaus in der Hand, die Emissionen gemäss liberalem Credo zu senken. Falls sie es aber nicht tun, hilft ihnen der Staat auf die Sprünge.

Reduktionspläne für die einzelnen Sektoren

Innerhalb des übergeordneten Reduktionpfades werden für die einzelnen Sektoren (Verkehr, Gebäude, Industrie, Landwirtschaft etc.) je unterschiedliche Reduktionspfade festgelegt. Diese orientieren sich nicht an den kurzfristigen wirtschaftlichen Gegebenheiten oder den Forderungen mächtiger Lobbygruppen, sondern an den ökologischen Notwendigkeiten und technischen Möglichkeiten. So haben Autos etwa einen Erneuerungszyklus von rund 10 Jahren, Heizungen und Gebäudesanierungen dagegen einen von rund 35 Jahren. Benziner, Dieselfahrzeuge und Hybride können also folglich 10 Jahre nach Inkraftsetzung dieser Regulierung ohne grösseren Schaden für die Autoimporteure und -besitzer generell verboten werden; wer danach noch fossil fährt, bezahlt eine jährliche Strafsteuer. In Sektoren mit längeren Erneuerungszyklen wie Gebäude und Maschinen kann die Reduktion der Emissionen mit gezielter Unterstützung, mit Prämien, Beihilfen für Härtefälle, über Energiekredite oder einen Transformationsfonds, beschleunigt werden.)

Für die einzelnen Sektoren (als Ganzes) darf es aber keine Ausnahmeregelungen und Schlupflöcher geben; innerhalb der Sektoren werden sie auf ein absolutes Minimum beschränkt, sie müssen aber innerhalb des Sektors ausgeglichen werden. So können Unternehmen durch gegenseitige Absprachen dafür sorgen, dass ihr «Sektorziel» eingehalten wird; alle diese  Absprachen müssen regelmässig überprüft werden. 

Für den Sektor Energie wird im Gegenzug ein verbindlicher Ausbaupfad festgelegt, der dafür sorgt, dass die Energieversorgung möglichst schnell fossilfrei funktioniert. Der Ausbau erneuerbarer Energien und die dazu notwendige Forschung werden gefördert. Da die Energieversorgung eine dringliche nationale Aufgabe ist, müssen Bund und Kantone alle notwendigen Mittel haben, um die Produktion, Transport und Verteilung von erneuerbarer Energie zu gewährleisten. Dazu können auch private Produktionsgemeinschaften, garantierte Einspeisevergütungen, die Ausschreibung für grössere und kleinere Energieprojekten etc. gehören. Bei umstrittenen Projekten, etwa zur Erhöhung von Staumauern oder der Einrichtung von Windparks, hat im Zweifelsfall die Energieproduktion Priorität.

Keine Auslandkompensationen

Und schliesslich: Alle Auslandkompensationen gehören abgeschafft. Sie sind langfristig ohnehin unsinnig, da die Schweiz bis 2050 nicht nur auf dem Papier, sondern faktisch klimaneutral sein muss, genau so wie alle jene Länder, mit denen sie derzeit Klimakompensationsabkommen abschliessen will. Zudem sorgen diese Kompensationsprojekte für Intransparenz und sind in Bezug auf ihre tatsächliche Nachhaltigkeit nur schwer überprüfbar. 

Bussen, Strafsteuern für das Überschreiten von Grenzwerten etwa bei Neuwagen etc. werden als Lenkungsabgabe vollumfänglich an die Bevölkerung und Unternehmen zurückerstattet. Sie sorgen für einen sozialen Ausgleich. Wer Grenzwerte überschreitet,  bezahlt nicht bloss eine einmalige, sondern eine jährliche Strafsteuer – er stösst ja nicht bloss einmal, sondern während der ganzen Lebensdauer etwa eines Autos zu viel CO2 aus.

Selbstverständlich: Diese Bemerkungen können nicht das Gerüst eines neuen Klimagesetzes sein. Aber sie können vielleicht dazu beitragen, dass die Debatte nicht einfach dort weitergeführt wird, wo sie vor der Abstimmung aufgehört hat: bei der Debatte um ein paar Rappen Benzinpreiserhöhung, von denen alle wissen, dass sie die Emissionen gar nicht beeinflussen. Oder bei der Debatte, wie viele Ausnahmen und Schlupflöcher die Wirtschaft bei jedem einzelnen Paragrafen braucht, um nicht überfordert zu sein oder zu kollabieren und ins Ausland flüchten zu müssen, wie viele Franken ins Portemonnaie der «kleinen Leute» zurückfliessen muss, damit sie einem neuen CO2-Gesetz zustimmen werden,  wie viele «liberale Anreize» oder «sozialistische Verbote» notwendig sind, um echte und wirkungsvolle Verhaltensänderungen durchzusetzen.

Kurz: Eine etwas distanziertere Sicht auf die Klimapolitik könnte immerhin zur Einsicht führen, dass es bei der Klimapolitik nicht in erster Line um Kosten geht, sondern ums Klima. Wer der SVP und Teilen der FDP, den Autofahrern und Hausbesitzern zuhört, könnte meinen, die Schweiz sei ein armes Entwickungsland, das es sich nicht leisten kann, seinen Beitrag an den globalen Klimaschutz (plus zusätzlich einen entsprechend hohen Betrag an den globalen Klimafonds GCF) aufzubringen. (CR)