Wenn sich ab heute Sonntag Vertreterinnen und Vertreter von fast allen Ländern der Welt im ägyptischen Sommerferienort Sharm el-Sheikh zur wichtigsten Klimakonferenz des Jahres treffen, ist natürlich auch die Schweiz mit von der Partie. Nicht dabei sind in der Schweizer Delegation allerdings die führenden Schweizer Klimawissenschafterinnen und -wissenschafter.
Bundespräsident Ignacio Cassis wird im Kongresszentrum, das ironischerweise den Namen Lamborghini trägt, also ausgerechnet jener Automarke, die sich bis jetzt standhaft geweigert hat, an die Produktion eines reinen E-Mobils auch nur zu denken – Ignacio Cassis also wird ein Grusswort sprechen und die Delegierten aus aller Welt auffordern, doch wirkungsvolle Massnahmen zu beschliessen, damit die Schweizer Gletscher nicht noch völlig wegschmelzen.
Mit der Schweizer Delegation wird neben den Vertretern der Bundesberner Umwelt-Bürokratie auch die Umweltministerin Simonetta Sommaruga nach Ägypten reisen. Und mit ihnen auch drei Vertreter der sogenannten Zivilgesellschaft, also der Wirtschaft und der Umweltorganisationen.
«Kä Luscht» auf kritische Stimmen
Nicht dabei sind aber wieder einmal die weltweit führenden Schweizer Klimaforscher etwa der ETH Zürich oder des Berner Oeschger-Instituts für Klimaforschung. Ausser der Genfer Professorin Géraldine Pflieger, welche schon im vergangenen Jahr zur Delegation gehörte. Géraldine Who? «Frau Pflieger musste ich auf Google suchen, ich habe sie nie getroffen oder von ihr gehört», meinte einer der bestvernetzten Schweizer Klimaforscher auf Anfrage von KlimaNews. Für die Delegation nominiert wurde Géraldine Pflieger allerdings von der Akademie der Naturwissenschaften, wie Robin Poëll von der Medienstelle des BAFU klarstellt.
Und in der Tat: Géraldine Pflieger ist zwar ordentliche Professorin für Stadt- und Umweltpolitik, aber am international doch eher unbedeutenden Departement für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen und zugleich am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Genf. Man könnte beinahe auf die Idee kommen, dass bei der Zusammenstellung der Schweizer Delegation politisches Wohlverhalten mehr zählt als wissenschaftliche Kompetenz und Expertise. Mit den Klartext redenden Kritikern der ungenügenden Schweizer Klimapolitik will man in Bern schon lange möglichst wenig zu tun haben.
Die Stimme der Wissenschaft: «Nicht unbedingt erforderlich»
Das Zerwürfnis zwischen dem UVEK und den führenden Schweizer Klimaforschern hat schon eine längere Geschichte. Als sich 2016 die Nationalrätin Kathy Ricklin in einer kleinen Anfrage erkundigte, warum die Wissenschaft bei der Zusammenstellung Delegationen seit Jahren nicht mehr berücksichtigt werde, hiess es in der wortreichen, aber inhaltsarmen Begründung des Bundesrates: «Der mit der Klimakonvention verbundene Prozess ist streng genommen kein wissenschaftlicher Prozess. Daher müssen in der Delegation auch nicht unbedingt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dabei sein.» Die Wissenschaft werde aber wie andere Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft jeweils im Vorfeld der Konferenzen konsultiert. (Was mehrere Mitglieder der sogenannten Klima-Taskforce sogleich vehement bestritten: «Wir haben keinen direkten Draht mehr zu Bundesrätin Sommaruga», zitierte die NZZ damals einen führenden Schweizer Klimawissenschafter, «wir haben mehrmals versucht, ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Das ist uns nicht gelungen.»)
Dass Klimaökonomie, Klimapolitikanalyse, Klimakommunikation, Umweltrecht und Umweltsoziologie längst wesentliche Teilbereiche der Klimawissenschaft sind, und diese Expertise bei den Verhandlungen durchaus eine wichtige Rolle spielen können, scheint man im Umweltdepartement von Simonetta Sommaruga bis heute nicht verstanden zu haben.
Die Schweiz braucht dringend eine Klima-Taskforce
So richtig eskalierte der Streit zwischen Politik und Wissenschaft, als sich Simonetta Sommaruga im vergangenen Jahr entschloss, das sogenannte OcCC (Organe consultatif sur les changements climatiques) abzuschaffen, eine Art Beratungsgremium für Klimafragen. Dabei wäre eine Art Klima-Taskforce dringend notwendig, gerade jetzt, wo sich nach der Ablehnung des CO2-Gesetzes besonders das Fiasko der Schweizer Klimapolitik immer deutlicher abzeichnet und sich Klimapolitikerinnen und -politiker, die Klima-Gurus der Medien, mächtige Lobbygruppen, Umweltverbände, die Klimajugend und die Klima-Bremser mit einer Unzahl möglicher und unmöglicher Vorschläge zu Wort melden und damit für mehr Verwirrung als Klarheit in der Öffentlichkeit sorgt.
Aber: Statt die OcCC zu einer breit aufgestellten Taskforce auszubauen, die mit einem umfangreichen Expertenpool selbst aktiv werden und selbst an die Öffentlichkeit treten kann, wie es der renommierte Berner Klimaforscher Thomas Stocker, selbst OcCC-Mitglied, forderte, hat Simonetta Sommaruga der Klimaplattform Proclim bei den Akademien der Naturwissenschaften (SCNAT)ein neues, möglichst lahmes Mandat erteilt: ProClim soll im Auftrag und zuhanden des Bundesrates hin und wieder einen Bericht schreiben. So als ersten Auftrag einen Report, wie eine klimaneutrale Schweiz im Jahr 2050 aussehen könnte. Das ist, zumal angesichts der Dringlichkeit aktueller Entscheidung für die nächsten paar Jahre, nicht viel mehr als eine Alibiübung, an der einige Wissenschafterinnen und Wissenschafter ein Jahr arbeiten und deren Resultat dann, von der Politik ignoriert und von der Öffentlichkeit unbemerkt, in einer Schublade oder im Altpapier landet.
Zu Recht monierte der Zürcher Klimaforscher Reto Knutti im Tages-Anzeiger, ein solches Mandat habe nichts mit einem aktiven institutionalisierten Politikdialog zu tun. Und auch Ständerat Othmar Reichmuth (Die Mitte), zeigte sich «nicht glücklich» ob dieser Lösung: «Es besteht die Gefahr, dass das UVEK die Expertise von Proclim nur abholt, wenn sie gerade gefragt sei, und sie ansonsten ignoriere.»
Wissende Ignoranz
All die permanent zunehmenden Umweltkatastrophen und das offensichtliche Versagen der Schweizer Klimapolitik haben bisher offensichtlich nicht zu einem Umdenken geführt. «Weder das UVEK noch das BAFU noch Frau Sommaruga wollen eine Beratung, der Gesamtbundesrat auch nicht», schreibt einer der prominentesten Klimaforscher auf Anfrage von KlimaNews. «Sie sehen Ihre Deutungshoheit in Gefahr und betrachten Lösungvorschläge als rein politische Fragen. (…) Sie haben vermutlich Angst, dass die Wissenschaft auf die klar ungenügenden Anstrengungen der Schweiz hinweist.»
«Wissende Ignoranz» nennt der deutsche Journalist Bernd Ulrich in seinem hervorragenden Buch «Alles wird anders. Das Zeitalter der Ökologie» (Kiepenheuer & Witsch, 2020) dieses seltsame Phänomen: Wir wissen alles, aber geben uns alle erdenkliche Mühe, es nicht zu wissen zu wollen. Oder es wenigstens möglichst wirkungsvoll zu verdrängen. Die volksdümmlichste Strategie ist es, sich einfach die Ohren zuzuhalten, und wenn der Lärm zu laut wird, den Zeithorizont so zu erweitern, dass es noch lang und möglichst ewig auf fünf vor zwölf bleibt. Und man noch Jahre Zeit hat, darüber pausenlos zu debattieren, zu streiten, was man dann irgendwann vielleicht doch machen müsste. In dieser Disziplin sind die Berner Umwelt-Bürokraten und die meisten Umweltpolitiker fast aller Parteien Meister ihres Fachs. Eine glaubwürdige, vom Bundesrat legitimierte und ernstgenommene Taskforce, die an internationalen Konferenzen mitreden darf und in den nationalen Klimadebatten Klartext redet, könnte wesentlich dazu beitragen, dass über Klimapolitik nicht nur geredet und geschachert, sondern deren hehre Ziele auch wirklich umgesetzt würden.