Zwischen drei- und viertausend Klimademonstrantinnen und -demonstranten zogen am Freitagabend durch die Zürcher Innenstadt. Sie protestierten unter anderem gegen den Ausbau der fossilen Infrastruktur in der Schweiz.  (Foto: Christian Rentsch)

Die Klimabewegung meldet sich zurück

Die Klimabewegung ist wieder da, wenn auch noch nicht ganz so stark wie vor vier Jahren, als weltweit Hunderttausende auf die Strasse gingen. 

In Zürich waren es am frühen Freitagabend zwischen drei- und viertausend jüngere und ältere Demonstrantinnen und Demonstranten, die sich auf dem Münsterhof versammelten und über das Limmatquai und die Uraniabrücke zum Helvetiaplatz zogen. 

In ihren engagierten Reden, mit Transparenten und Sprechchören kritisierten die vorwiegend jugendlichen Organisatoren von Klimastreik Zürich den forcierten Auf- und Ausbau einer fossilen Infrastruktur in der Schweiz, namentlich den Bau des Reservekraftwerks im aargauischen Birr wie auch die Planung eines weiteren Notkraftwerks in Cornaux und eines Flüssiggasterminals in Muttenz. Allein das Kraftwerk Birr  würde im Vollbetrieb mit Heizöl täglich 4’800 Tonnen, mit Erdgas 3600 Tonnen CO2 emittieren, also fast so viel wie die ganze Stadt Zürich (5’000 Tonnen).

«Erdöl-Lobbyischte – ab i d Chischte!»

Demgegenüber fordert Klimastreik, dass bei einer drohenden Strommangellage der Betrieb von energieintensiven Sektoren wie die Zement- oder Stahlindustrie gedrosselt werde. Überdies soll die Arbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn gekürzt und der öffentliche Verkehr mit einer Übergewinnsteuer von Energiekonzernen wie Glencore oder Shell vergünstigt werden.

Auch in anderen Schweizer Städtern wurde klimagestreikt. In Bern waren es ebenfalls mehrere tausend Personen, in Aarau, Luzern, Neuchâtel, Sion und St. Gallen immerhin hunderte.

Weitaus grössere Kundgebungen fanden im Ausland statt. In Deutschland demonstrierten nach Angaben der Bewegung Fridays for Future (FFF) mehr als 220’000 Menschen, allein in Berlin mehr als 18’000, in München gut 32’000 und in Hamburg über 12’000 Menschen. In Wien sollen nach Angaben von Beobachtern rund zehntausend Menschen auf die Strasse gegangen sein. Die Veranstalter sprachen gar von 25 000 Teilnehmern.

Vergiftete Liebespfeile

Just zwei Tage vor dem grossen weltweiten Klimastreiktag vom Freitag macht die NZZ der «lieben Klimajugend» eine Liebeserklärung, die man kaum anders als eine unmissverständliche Drohung verstehen kann. 

«Liebe Klimajugend, die Apokalypse ist abgesagt», betitelt der NZZ-Wirtschaftsredaktor Christoph Eisenring seinen Leitartikel. Und die frohen Aussichten, man ahnt es schon, haben wir nicht den Klimaaktivistinnen und -aktivisten zu verdanken, die mit ihren Aktionen ihren Regierungen Beine machen wollen, sondern den Unternehmerinnen und Unternehmern, den weitsichtigen Wirtschaftsführern und Finanzkapitänen, die sich, notabene ganz und gar freiwillig, die Rettung der Welt auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Milchbüchlirechnungen und Unterlassungssünden

Man verstehe ja gut und gern, meint Eisenring, dass viele Jugendliche sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Dennoch sei es völlig unverzeihlich, «wenn man die Jungen in dem Glauben bestärkt, dass es mit der Welt zu Ende geht.»  Zwar würden die Treibhausgas-Emissionen weltweit weiter ansteigen, aber: In den letzten Jahren sei «zumindest in den westlichen Ländern das vermeintlich Unmögliche gelungen: Die CO2-Emissionen im Industrieländerklub OECD haben 2005 ihren Höhepunkt erreicht und gehen Jahr für Jahr um 1 Prozent zurück.» Kein Wort davon, dass der Rückgang der Emissionen nicht den Bemühungen der Unternehmen, sondern zu einem grossen Teil der Pandemie zu «verdanken» ist und der Verbrauch von Kohle, Öl und Erdgas selbst in den OECD-Ländern aufgrund der befürchteten Stromlücke wieder massiv ansteigt.

Auch fehlt in Eisenrings Milchbüchlirechung der Hinweis, dass es bei einem Rückgang der Emissionen um  jährlich 1 Prozent ganze hundert Jahre dauern würde, bis nur schon die reichen OECD-Länder klimaneutral wären – die Klimawissenschafter fordern einen weltweiten Rückgang von jährlich rund 8 Prozent.

Und erst recht unterschlägt Eisenring, dass ein Grossteil der in den kommenden Jahrzehnten noch emittierten Treibhausgase weit über 100 Jahre in der Atmosphäre verbleiben und mit längst noch nicht praktikablen Methoden wieder aus dieser entfernt werden müssen.

Rettet den Kapitalismus!

Das alles mag den NZZ-Wirtschaftsredaktor wenig kümmern, der offensichtlich lieber die Financial Times als die ICCP-Berichte oder die Gutachten der Monitoring-Plattform Climate Action Tracker (CAT) liest. Aber Eisenring geht es bei seiner Liebeserklärung an die Klimajugend ja auch weniger um die Rettung des Klimas als vielmehr um die Rettung des Kapitalismus.

Klar plädiere die Klimajugend für einen Systemwechsel, wenn sie durch so dubiose Gestalten wie die Lausanner Ökonomin Julia Steinberger verführt werde und die Alt-68er den Bau neuer Atomkraftwerke immer noch strikt verteufeln. Richtig aber sei jedoch, dass «erst der Kapitalismus Kräfte freisetzt, die es Menschen erlauben, ihre Situation zu verbessern, ohne dass sie zuerst eine Obrigkeit um Erlaubnis bitten müssen.» (So wirr hat wohl noch selten ein Kapitalismus-Propagandist Ökonomie und Politik in einem Satz zusammengewurstet.)

Dabei rechnet Eisenring völlig Inkommensurables gegeneinander auf: Gas gegen Geld, Physik gegen Ökonomie, 1 Prozent weniger Emissionen gegen 25 Prozent mehr materieller Wohlstand, als ob der Wohlstandsgewinn in den ohnehin schon reichen Länder die aktuellen und (heute verursachten) künftigen globalen Katastrophen und deren ökologischen, ökonomischen und sozialen «Kosten» aufwiegen würde.

Engagiert Euch – in den Firmen!

Mit so dürftigen Argumenten, da hat Eisenring wohl recht, dürfte es schwierig sein, die Jugendlichen von ihrer antikapitalistischen Linie abzubringen. Dennoch möchte er «den Jungen wiederum zurufen: Statt beim Staat anzuheuern, engagiert euch in den Firmen, denn dort lässt sich viel mehr bewegen als mit dem Skandieren antikapitalistischer Slogans».

Eisenrings Plädoyer für den freien Markt, für Eigenverantwortung und gegen die vermeintliche Ökodiktatur der Regierungen, sein Umarmungsversuch hat natürlich eine heimtückische Pointe. Sie soll die Klimabewegung spalten: Hier die Guten, die sich bei all ihren Sorgen in den Unternehmen engagieren, deren Wohlstand mehren und deren angeschlagenes Image als kaltherzige Kapitalisten grün aufpolieren. Und dort die Bösen, die Weltuntergangssektierer, die unzurechnungsfähigen Teenager und marxistisch unterwanderten Fanatiker (alles Zitate aus der früheren NZZ-Artikeln), die mit ihrem «Kinderkreuzzug» «extremen Massnahmen Vorschub leisten, die in Unfreiheit und Tyrannei münden».

Die Klimajugend braucht keine paternalistischen Ratschläge

Gross beeindrucken werden diese vergifteten Umarmungsversuche die Klimajugendlichen wohl kaum. Sie haben ihre Hausaufgaben längst gemacht, sie wissen bestens Bescheid über die Ursachen des Klimawandels und kennen die Szenarien und Prognosen der Wissenschafter ebenso wie die Mechanisamen des «fossilen Kapitalismus». Sie brauchen auch keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Demokratie, weder von den Parteien, die immer noch nicht richtig begriffen haben, dass die Klimabewegung flügge geworden ist und sich nicht einspannen lässt von den grünen und roten Wahlkampfstrategen. Und sie brauchen auch keine paternalistischen Belehrungen der NZZ. Denn sie sind zwar gegen den zerstörerischen fossilen Kapitalismus, aber durchaus nicht gegen die Demokratie. Im Gegenteil: Sie fordern von den Parteien und Regierungen bloss, dass diese auch tatsächlich umsetzen, was sie den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern vor ihrer Wahl versprochen haben.

Christian Rentsch