Die Schlacht am Gotthard – und andere Klimamärchen
Kaum eine Zeitung, die in den letzten Tagen den österlichen Stau vor dem Gotthardtunnel nicht in Verbindung gebracht hätte mit der kurzen Strassenblockade von sechs Klimaaktivistinnen und -aktivisten von «Renovate Switzerland». Ganz nach dem Motto: Prügelt sie! Sie sind an allem schuld.
Der mächtigen Autolobby und der SVP kann man kaum einen Vorwurf machen: Das Verdrehen von Tatsachen und die Verunglimpfung von politischen Gegnern gehört zu ihrem Geschäftsmodell. Aber dass selbst Politiker wie der lindengrüne Bastien Girod und der opportunistische GLP-Boss Jürg Grossen auf dieser populistischen Welle mitschwadern, erstaunt schon eher. Und erst recht erstaunt, dass die Medien von 20min und Blick bis zur NZZ und den Tamedia-Blättern an diesen Fake News mitstrickten.
Denn was immer man sonst von einigen umstrittenen Aktionen von «Renovate Switzerland» hält, eines lässt sich nicht wegdiskutieren: Verantwortlich für die kilometerlangen Staus und die mehrstündigen Stauzeiten am Gotthard sind nicht die Strassenblockierer, sondern die Autofahrer; wer im alljährlichen Osterstau stecken blieb, ist selber schuld. Wer den Klimaaktivisten Schuld daran gibt, könnte ebenso gut behaupten, die Rotlichtsignale an der Zürcher Bellerivestrasse seien schuld an den täglichen Autoschlangen vor dem Bellevue.
Niemand hat eine Vorstellung, wie die Schweiz bis 2050 klimaneutral werden soll
Aufschlussreich an dieser Diffamierungskampagne ist aber auch, dass die Autofahrer und Politiker sich zwar medienwirksam ungemein echauffieren über die Folgen ihres eigenen Verhaltens, aber kaum eingestehen dass sie ja selber die Ursache dieser ganzen Misere sind. Kein selbstkritisches Wort davon, dass sie zwar permanent auf die Eigenverantwortung pochen, aber bitte nur für alle anderen.
Und kaum eine Politikerin, ein Politiker gesteht ein, dass sie in den Parlamenten zwar seit Jahren eifrig über Klimapolitik palavern, aber es bisher weder geschafft haben, wirkungsvolle Massnahmen tatsächlich umzusetzen noch eine Strategie zu entwickeln, wie die Schweiz ihr Netto-Null-Ziel bis 2050 erreichen könnte.
An den verhältnismässig harmlosen Aktionen der Klimajugend liegt es jedenfalls nicht, dass die Klimapolitik seit Jahren vor sich hindümpelt und die CO2-Emissionen immer weiter ansteigen.
Es ist nicht Aufgabe der Klimabewegung, beliebt zu sein
Zu den gängigen Diffamierungen gehört auch der Vorwurf, die demonstrierenden Jugendlichen würden mit ihren Aktionen die wohlwollenden Bürgerinnen und Bürger düpieren, seien also mitschuldig daran, dass die breite Bevölkerung sich weitergehenden Massnahmen verweigere. Aber: Es ist nicht Aufgabe der Klimabewegung, die Bevölkerung mit treuherzigem Blick und Blumen im Haar zu überzeugen, dass grüne Klimapolitik doch eine tolle Sache sei. Im Gegenteil: Sie muss, wenn sie erfolgreich sein soll, unbequem und lästig sein, die Gleichgültigen aufrütteln und den Politikerinnen und Politikern Beine machen. Wenn die Stimmbürgerinnen und -bürger blocken und nicht einsehen wollen, dass es eilt und schneller vorwärts gehen muss, dann ist das vor allem ein Versagen der Politik und der Medien, die nicht in der Lage sind, ihnen überzeugend zu erklären, wie dramatisch es tatsächlich um das Klima steht.
Eigentlich müssten unsere bürgerlichen Politikerinnen und Politiker ja mächtig stolz sein auf die jugendlichen Klimaaktivistinnen und -aktivisten. Denn sie handeln so, wie man es sich von guten Bürgern und Politikern wünscht:
- mit einem Engagement, das sich nicht an irgendwelchen Partikulärinteressen, sondern am Gemeinwohl orientiert.
- mit Prinzipientreue, die sich nicht von wahltaktischen Opportunitäts-Überlegungen, Meinungsumfragen und Diffamierungsversuchen von ihren Zielen abbringen lässt,
- mit hoher Glaubwürdigkeit, denn die Jugendlichen handeln anstatt bloss zu reden, und sind bereit, für ihre Überzeugung auch persönliche Nachteile, sogar Bussen oder Haftstrafen, in Kauf zu nehmen,
- mit der Einsicht, dass sie nicht alles ohnehin besser wissen; sie glauben den Befunden, Analysen und Warnungen der Klimawissenschaft mehr als den Ausreden und vagen Versprechungen mächtiger Lobby-Gruppen.
Revolution klingt anders
Und auch das müssten die Politikerinnen und Politiker, die so viel von Demokratie und Rechtsstaat reden, zur Kenntnis nehmen: Die Jugendlichen der Klimabewegung fordern in ihrer grossen Mehrheit nicht irgendeine abstruse Öko-Revolution, sondern letztlich «bloss», dass die Schweiz ihre internationalen Verpflichtungen einhält und ihre selbst gesetzten Klimaziele auch wirklich umsetzt. Und sie appellieren dabei, wenn auch zuweilen mit Mitteln des zivilen Ungehorsams und (verhältnismässig harmlosen) Übertretungen, in erster Linie an den Staat und die Politik, die es richten sollen. Revolution klingt anders.
Die Schweiz hat viel versprochen und wenig gehalten
Vielleicht erinnern sich einige dieser aufgebrachten Politikerinnen und Politiker und die ihnen treu verbundenen Medien noch vage an das Pariser Klimaabkommen vom 12. Dezember 2015, das zwei Jahre danach auch von die Schweiz ratifiziert wurde. In diesem Abkommen verpflichtet sich die Schweiz unter anderem, ihre CO2-Emissionen bis 2030 um 50 Prozent, bis 2050 um mindestens 85 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren.
Inzwischen aber glaubt niemand, nicht einmal die unverbesserlichsten Optimisten, daran, dass die Schweiz in den kommenden sieben Jahren bis 2030 die 50-Prozent-Marke noch schafft. Ganz zu schweigen vom Netto-Null-Ziel bis 2050: Weder die Parteien von links bis rechts, weder die Umwelt-NGOs noch die von Simonetta Sommaruga ins Abseits degradierte Experten-Begleitgruppe der Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT), und erst recht nicht das dafür zuständige Uvek, haben bisher eine Strategie skizziert, wie das konkret gehen soll.
Das Märchen von der Vorreiterrolle der Schweiz
Die Einzigen, die sich trotz alledem unverblümt und wider besseres Wissen auf die eigene Schulter klopfen und das Märchen von der Vorreiterrolle der Schweiz kolportieren, sind ausgerechnet die höchsten Repräsentanten unseres Landes. Der diesjährige Weltgipfel dürfe «nicht die Konferenz sein, auf der wir das 1.5-Grad-Klimaziel aus den Augen verlieren», meinte der Aussenminister und damalige Bundespräsident Ignazio Cassis an der letztjährigen Klimakonferenz in Ägypten: «Die Schweiz wird nicht von ihren Zielen abweichen.» Und Umweltbotschafter Franz Perrez, seit Jahren Leiter der Schweizer Klimadelegationen, behauptete im Tages-Anzeiger allen Ernstes, die Schweiz werde sich «weiterhin am schärfsten Klimaziel des Pariser Klimaabkommens orientieren»; nur so «seien die Chancen intakt, wenigstens das Hauptziel des Vertrages zu erreichen: deutlich unter einer Erwärmung von 2 Grad zu bleiben».
Die Klimapolitik der Schweiz: Zwischen «unzureichend» und «völlig ungenügend»
Dabei weiss er und wissen wir alle, dass dies pure Rhetorik ist. Die Schweiz, die 2014 der sogenannten «High Ambition Coalition» (HAC) beitrat, einer informellen Gruppe von etwas mehr als 20 Ländern, die sich bei internationalen Klimaverhandlungen für möglichst ehrgeizige Ziele engagieren wollen, hinkt den Verpflichtungen des Pariser Abkommens und ihren selbst gesetzten Zielen weit hinterher.
Die Monitoring-Plattform Climate Action Tracker (CAT), die von so renommierten Instituten wie dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) betrieben wird, bewertet die Schweizer Klimapolitik insgesamt als «unzureichend», in einzelnen Bereichen gar als «höchst ungenügend». Würden alle Länder eine Klimapolitik wie die Schweiz verfolgen, heisst es in dem Bericht, würde die Erderwärmung erheblich über 2 Grad und gar bis zu 3 Grad ansteigen.
Natürlich gehören Bluff und grosse Worte zum Handwerk aller Diplomaten; die Schweiz macht da keine Ausnahme. Bloss: Die Zeit der grossen Worte und kleinen Taten ist abgelaufen. Die Klimaerhitzung ist längst nicht mehr bloss ein Problem der fernen Zukunft in fernen Ländern; sie ist inzwischen in der aktuellen Gegenwart angekommen, auch hierzulande.
Spätestens seit dem 1.5-Grad-Sonderbericht (2018) und dem Synthesis Report ARA 6 des Weltklimarats vom letzten Jahr wissen wir, dass wir nicht mehr einige Jahrzehnte, sondern keine Zeit mehr haben. Die gängigen Ausreden «Besser spät als nie» und «Immerhin ein Schritt in die richtige Richtung» sind obsolet geworden. Die Physik richtet sich nicht nach den Wünschen von Bundesbern. Sie wartet nicht, bis wir im parlamentarischen Schneckentempo wieder einen kleinen Schritt vorwärts machen wollen. Auch der Ukrainekrieg, das Feilschen um die Interessen der Autoimporteure und um die letzten Details der Solar-Subventionen sind ihr herzlich egal.
«Wir sind auf einem Highway in die Klimahölle»
UN-Generalsekretär Antònio Guterres, beileibe kein blindwütiger Alarmist, als den ihn die NZZ zu diffamieren versucht, sagte es zur Eröffnung des Weltklimagipfels im vergangenen November in unmissverständlichem Klartext: «Wir sind auf einem Highway in die Klimahölle und haben den Fuß auf dem Gaspedal». Ähnlich sagen es seit Jahren auch die führenden Klimawissenschafterinnen und -wissenschafter: Wir stehen unmittelbar vor einem Wendepunk, ab dem die Klimaerhitzung unumkehrbar wird.
Derzeit aber setzen sich weder Politik noch Wirtschaft glaubwürdig dafür ein, dass diese Katastrophe auf keinen Fall eintritt. Es sind, trotz ihrer gegenwärtigen Schwäche, die Klimajugendlichen (und zuweilen andere Gruppen wie die Klimaseniorinnen), die uns mit ihren Störaktionen immer wieder zwingen zu entscheiden, ob uns die gegenwärtigen Bequemlichkeiten oder die Lebenschancen der künftigen Generationen wichtiger sind.
Zur Eröffnung des Weltklimagipfel in Glasgow im November 2021 sagte Guterres: «Die Klimaschutzbewegung, die von jungen Menschen angeführt wird, ist nicht mehr aufzuhalten. Sie wird größer und lauter und wird sich, das kann ich Ihnen versichern, nicht mehr verdrängen lassen. Ich stehe ganz an ihrer Seite.»
Man würde sich so klare Worte auch von unseren Schweizer Klimapolitikerinnen und -politiker wünschen.
Christian Rentsch
Lesen Sie auch den Kommentar «Ein emotionaler Anstoss» von Daniel Stern in der WoZ vom 13. April zum selben Thema.