Glaubt man den zwei Umfragen der SRG und der Tamedia, ist der Kampf um das Klimaschutzgesetz bereits gelaufen: Deutlich mehr als 50 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wollen das Gesetz annehmen. Die Abstimmungsgegner haben aber noch längst nicht aufgegeben. In ihrer Kampagne setzen sie vor allem auf die Verunsicherung jener 20 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die noch unentschieden oder allenfalls bloss «eher dafür» sind. 

72 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wollten im April laut einer SRG-Umfrage dem Klimaschutzgesetz zustimmen; eine Tamedia-Umfrage kam immerhin noch auf 58 Prozent. Wobei der Anteil jener, die sich noch nicht entschieden haben oder bloss «eher zustimmen,» fast ein Fünftel der Befragten ausmacht. Sicher zustimmen wollten laut der Tamedia-Umfrage nur 43 Prozent. 

(Kleiner Nachtrag: Gemäss einer zweiten Tamedia-Umfrage von Mitte Mai ist die Zustimmung inzwischen um drei Prozent auf 55 Prozent gesunken (44 Prozent sicher, 11 Prozent «eher dafür»). Dabei scheint vor allem in der FDP die Stimmung zu kippen.)

Die «Stromfresser»-Kampagne wird denn auch entsprechend aggressiv geführt. Wobei die Exponenten jenseits der SVP sich weitgehend zurückhalten und es ihren Gefolgsleuten in den Medien überlassen, die Sau durchs Dorf zu treiben.

Alarmismus, diesmal von rechts

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass die NZZ oder die Tamedia-Blätter eine neue (oder alte) Studie aus der Schublade ziehen, die den Leserinnen und Lesern vorrechnet, dass die angepeilten Klimaziele gar nicht zu erreichen seien – zumindest nicht ohne Atomkraft und noch zu erfindenden «neue Technologien». Und ohne dass sie – ganz unter dem Deckmäntelchen der «Ausgewogenheit» – einen Gastbeitrag prominent ins Blatt rücken, der die Freiheit, die Demokratie oder gar unser ganzes Wirtschaftssystem bedroht sieht und warnt, dass schon bald ein riesiges Heer von Arbeitslosen bei Kerzenlicht in ihren ungeheizten Wohnungen verhungern wird. Und selbst die mittelständischen Herr und Frau Schweizer auf ihren Jeep oder Range Rover, auf den Wochenend-Flug und ihr Entrecôte verzichten müssen.

Dabei geht es meist nur in Nebensätzen ums Klima oder das Klimaschutzgesetz. Im Zentrum steht zumeist die Frage nach dem Portemonnaie. Auf den kürzesten Nenner gebracht: Gucci-Täschchen oder doch ein bisschen Klimaschutz. 

Die NZZ holt die Dinosaurier aus der libertäre Mottenkiste

Die NZZ, die als einzige grössere Zeitung das Klimaschutzgesetz explizit ablehnt, holte zu diesem Zweck wieder einige Dinosaurier aus der libertären Mottenkiste. Etwa den Wirtschaftsdemagogen Hans Rentsch, einen ehemaligen Mitarbeiter von Avenir Suisse, der mit dem Argument hausieren geht, Klimaschutz sei eigentlich nichts mehr als ein kurioser Zeitvertreib eines begüterten «Moraladels» und der bigotte Trick einiger Klimaprofessoren, um an neue Forschungsgelder zu kommen.

Oder Martin Grichting, den ehemaligen Generalvikar des Bistums Chur, der es lieber Gott als den Menschen überlassen will, wie gut es der Welt geht. Oder der dänische Buchautor Björn Lomborg, der aus der Tatsache, dass sich die Zahl der Eisbären seit den 1960er Jahren verdreifacht hat, schliesst, dass es ums Klima wohl doch nicht ganz so schlimm bestellt sein kann.

Warnung vor den «Klimakommunisten»

Bisheriger «Höhepunkt» der NZZ-Kampagne aber war am vergangenen Montag eine ganzseitige geifernde Tirade des Bundeshausredaktors David Biner gegen die «Klimakommunisten», ein Hetzartikel, den wohl nicht einmal Roger Köppels Weltwoche überbieten kann. Die «Klimakommunisten» – zu denen Biner alle Politikerinnen und Politiker links von seiner eigenen Positionen zählt, hätten in Bern längst das Zepter übernommen und würden uns vorschreiben, «was wir essen, wie wir heizen und bauen, wie wir uns bewegen sollen, wie wir zu leben haben».

Der «links-grüne Wohlstandstrübsinn», so Biner, werde, wenn das Klimaschutzgesetz angenommen werde, die Schweiz «auf bestem Weg zurück in Gotthelfs Zeiten» katapultieren. Die «wachstumskritischen Umerziehungsutopien» der «Regulierungsindustrie», die linksgrüne «Kommandowirtschaft» hätten selbst Die Mitte und die FDP infiziert; diese würden, so Biners Unterstellung, nur deshalb für das Klimaschutzgesetz plädieren, weil auch sie am 18. Juni zu den Gewinnern gehören möchten. Noch selten hat sich ein NZZ-Redaktor mit einem einzigen Artikel so ins Abseits geschrieben.

Die SonntagsZeitung erfindet einen Kronzeugen

Ganz so läppisch inszenierte die Sonntagszeitung ihre Verunsicherungskampagne dann doch nicht. Sie bot dem Lausanner EPFL-Professor Andreas Züttel auf zwei Zeitungsseiten ein Forum. Explizit wendet sich Züttel natürlich nicht gegen das Klimaschutzgesetz – «ehrlich gesagt» sei er noch unentschlossen -, aber was er dann gegen das Gesetz vorbringt, könnte durchaus auch in der Abstimmungs-Zeitung «Energie News» der SVP stehen: Das Klimaschutzgesetz sei planlos, unbezahlbar teuer, illusionär und praktisch kaum umsetzbar; es setze falschen Prioritäten und gefährde die Versorgungssicherheit. Man könne ein Land auch durch falsche Entscheide ruinieren, heisst seine Quintessenz – es ist nicht schwer zu erraten, was er damit meint.

Plötzlich im Rampenlicht

«Geadelt» wurde das Interview, eine Art Kurzfassung eines Vortrags von Züttel im Rahmen von «Science City», von der Sonntagszeitung durch den Hinweis, bei Züttel handle es sich um den «wohl grössten Experten für erneuerbare Energien in der Schweiz», bei dessen Forschungen es um den «Kern der Abstimmungsvorlage» gehe. Das ist, gelinde gesagt, eine waghalsige Übertreibung, denn der Wasserstoff-Experte Züttel gilt in der Schweizer Klimaforschung als eigenwilliger Aussenseiter ohne jeden grösseren Einfluss; seine bereits 2021 veröffentlichte Studie  «Future Swiss Energy Economy: The Challenge of Storing Renewable Energy» hat in der wissenschaftlichen Debatte kaum Beachtung gefunden – die Studie befasst sich denn auch nicht wie behauptet mit dem Kernproblem des Klimaschutzgesetzes, sondern bloss mit einem (zugegeben: durchaus auch wichtigen) Teilaspekt, nämlich den Möglichkeiten der Speicherung erneuerbarer Energien.

Verwirrung total – oder: das Gegacker der selbsternannten Experten …

Stöbert man in den weit über 300 Beiträge in der Kommentarspalte zu Züttels Interview, zeigt sich: Aufgeregtes Gegacker im Hühnerstall – Verwirrung total. Denn natürlich sind die selbsternannten Klimaexperten allesamt überfordert, wenn Züttel etwa behauptet, allein für den Ersatz der vier AKW brauche es Fotovoltaik in der Grössenordnung der ganzen nutzbaren Dachflächen der Schweiz sowie zusätzlich vier neue Stauseen in der Grösse von Grande Dixence. Statt dessen regen sich die Kommentierenden über alles Mögliche auf, was ihnen grad so einfällt; es geht in den Kommentaren um Brennstoffzellen und ums Bäumepflanzen, Gletscherschwund, teure Mieten und den Wärmeverbund Riehen, die Reichen und die Armen in der Schweiz und anderswo, um kaputte Kühlschränke und die Segnungen der Marktwirtschaft. Und so weiter.

… und das leise Gezwitscher der Wissenschaft

Demgegenüber blieb das Echo der professionellen Klimawissenschaft auf das Züttel-Interview bisher äusserst bescheiden. Reto Knutti, einer der renommiertesten Schweizer Klimaforscher, reagierte auf Twitter unwirsch: «Die diskutierten Herausforderungen sind klar relevant und niemand sagt, es ist einfach. Trotzdem sind solche Interviews extrem problematisch. Die Grenze zwischen unterschiedlichen plausiblen Interpretationen und Schwachsinn ist fliessend.» In einer Reihe von Threads – leider im üblichen, schludrig verfassten und kaum lesbaren Twitter-Sprech – stellt er die Interview-Aussagen des «grössten Experten für erneuerbare Energien» dar als eine Mélange von wissenschaftlichen Fakten, nicht belegbaren Behauptungen, Übertreibungen, Fehlinterpretationen und Weglassungen relevanter Fakten. (Ähnlich verfährt auf Twitter auch Marcel Hänggi, der Initiant der Gletscherinitiative.) 

Allerdings: So richtig klug wird man aus den paar Schnipseln nicht – nur logisch, denn der Schnipseldienst Twitter ist letztlich nichts anderes als die kaum zu unterbietende Schwundstufe medialer Kommunikation, ein argumentationsfreier Rülpser von Leuten, die grad keine Zeit, keine Lust oder keine Kompetenz zum sorgfältigen Argumentieren haben, aber dennoch täglich ihre mediale Präsenz markieren wollen. 

Bloss ein Zweikampf der Experten?

Eine sorgfältige Auseinandersetzung mit Züttels Thesen lieferten erst Tage später Stefan Häne und Martin Läubli im Tages-Anzeiger. Ein sachkundiger Fakten-Check, der Züttels Behauptungen und Übertreibungen Punkt für Punkt korrigiert und widerlegt. 

Der Verriss im hauseigenen Konkurrenzblatt brachte wiederum den Züttel-Interviewer Mischa Aebi auf die Palme. In einem Nachschlag zum Interview am folgenden Sonntag deutete er Debatte um zu einem mehr oder weniger persönlich motivierten  Zweikampf zwischen Experten, die sich gegenseitig die wissenschaftliche Kompetenz absprechen würden. Wobei er sich ganz auf die Seite des attackierten Professors Züttel schlug. Ausgewogene Berichterstattung klingt anders. 

Das Rätsel des differenzierten Neins

Aebis vehemente Parteinahme ist allerdings kein zufälliger Ausrutscher; der Bundeshaus-Redaktor der SonntagsZeitung gehört mit Artikeln wie «Jetzt setzen auch Linke auf dreckigen Strom» oder «Politiker wollen Solaranlagen bei schönem Sommerwetter den Stecker ziehen» selber zu den eifrigsten Kritikern des Klimaschutzgesetzes. Sein Fazit: Während der Klima-Professor Knutti sich einseitig und vorbehaltlos hinter das Klimaschutzgesetz stelle, vertrete der Energie-Professor Züttel eben «eine differenziertere Haltung». Allerdings: Wie sich eine differenziertere Haltung auf einem Stimmzettel ausdrücken lässt, wenn man nur Ja oder Nein stimmen kann, diese Antwort blieb Aebi seinen Leserinnen und Leser schuldig.

(Kleine, schon fast humorige Pointe: Die Leiter der EMPA, welche Züttels Studie mitfinanziert hat, interpretieren die Ergebnisse der Studie laut Häne und Läubli diametral anders als Züttel selbst, nämlich als Nachweis, dass die aktuelle Strategie der Schweiz genau der richtige Weg sei, mit einem Mix aus Energieeffizienz, dem Ausbau der erneuerbaren Energien, globalem Handel mit erneuerbarer Energie und einer Integration ins europäische Stromnetz.) 

 Sommarugas fatale Erbschaft: das Wohlfühl-Märchen

An diesem ganzen verwirrenden Durcheinander sind die Politiker, auch diejenigen der SP, der Grünen und der lindengrünen GLP, weitgehend selber schuld. Sie haben sich seit dem Einreichen der Gletscher-Initiative vor dreieinhalb Jahren von Kompromiss zu Kompromiss und schliesslich zu einem Kompromiss des Kompromiss-Kompromisses durchgemogelt. Mit dem schon von Anfang an unhaltbaren Wohlfühl-Märchen der früheren Umweltministerin Simonetta Sommaruga, dass der Klimaschutz beinahe gratis zu haben sei. 

Sie haben es verpasst – und damit den Abstimmungsgegnern selber Munition geliefert -, den Stimmbürgerinnen und -bürgern von Anfang die Wahrheit zu sagen; nämlich dass die Klimawende viele hundert Milliarden kosten wird. Billiger, das ist der schlechte Teil der Nachricht, ist die Klima- und Energiewende nicht zu haben. Aber, und das ist der gute Teil der Botschaft, je schneller und kompromissloser wir handeln, umso besser kommen wir davon. Denn jedes Jahr Verzögerung, jeder Kompromiss kostet noch zahlreiche Milliarden mehr, weil zu den ohnehin unabdingbaren Umbaukosten der Energieversorgung auch die zwischenzeitlich rapid steigenden Umweltschäden und Anpassungen finanziert werden müssen. Umso besser, wenn neue Technologien und Innovationen dazu beitragen. Man sollte sich bloss nicht vorschnell darauf verlassen …

Der Schlupflöcher-Trick: «Der Bundesrat kann …» (muss aber nicht)

Und leider haben die Gegner des Klimaschutzgesetzes auch in einem weiteren Punkt recht. Die nachgiebige Kompromisspolitik hat dazu geführt, dass die vorliegende Gesetzesvorlage allzuviel offenlässt und damit bei der Umsetzung des Gesetzes zahlreiche Schlupflöcher und Ausnahmeregelungen möglich macht. So heisst es Gesetz etwa: «Der Bundesrat kann …» (muss aber nicht), … – «soweit wirtschaftlich tragbar» … und «nach Anhörung der betroffenen Kreise» – … Richtwerte und Anderes anordnen; es wird «angestrebt», Ziele sollen «soweit wie möglich» erreicht werden, die «Unternehmen und Branchen «können Fahrpläne erarbeiten».

Und das alles soll ganz ohne Sanktionen und Verbote erreicht werden, selbst dann, wenn einzelne Branchen oder Sektoren die vorgegebenen Richtwerte bei weitem verfehlen. Die Gegner des Klimaschutzgesetzes haben leider recht: Das Gesetz ist in der jetzigen Fassung ein Papiertiger. Es benennt die Ziele, aber nicht deren Umsetzung. Es verschiebt die wesentlichen Auseinandersetzungen in die Zukunft. Es übernimmt die fatale Fehleinschätzung der Klimaschutzgegner, man könne ja irgendwann ein bisschen nachbessern, falls sich zeige, dass die geplanten Massnahmen nicht greifen.

Fast der einzige Unterschied, der die Gegner von den Befürwortern trennt, ist, dass das Gesetz den einen zu weit, den anderen zu wenig weit geht. Wobei beiden nicht einmal klar ist, ob es denn überhaupt irgendwo hingeht.

Die Stimmbürgerinnen und -bürger wollen nicht «mitgenommen», sondern überzeugt werden

Mitschuldig an der ganzen Misere ist aber auch das von links bis rechts eifrig gepflegte Allerwelts-Argument, man dürfe das Stimmvolk nicht überfordern. Bloss: Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind nicht ganz so dumm, wie viele Politikerinnen und Politiker meinen. Sie wollen aber nicht «mitgenommen», sondern mit stichhaltigen Argumenten überzeugt werden. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung, das zeigen Umfragen, hat längst verstanden, dass die Klimaerhitzung das grösste globale Überlebens- und Zukunftsthema ist. Trotz Ukrainekrieg und allfälliger Strommangellage. Dem Klima ist völlig egal, wie viel Treibhausgase wir in den nächsten Jahrzehnten noch emittieren. Es folgt seinen eigenen physikalischen Gesetzen, und mit denen kann man nicht verhandeln, keine Kompromisse schliessen.

Warum man dennoch Ja stimmen muss

Es gibt nur einen einzigen, aber dennoch zwingenden Grund, dem missratenen Klimaschutzgesetz zuzustimmen: Es ist besser als nichts. Jedenfalls besser als der völlige Scherbenhaufen, vor dem die Schweizer Klimapolitik steht, wenn das Gesetz abgelehnt wird. 

Fatal aber ist, dass die meisten Befürworter, die Parteien, die Umwelt- und befürwortenden Wirschaftsverbände und die Wissenschafter das Klimaschutzgesetz so empor-euphorisieren, als wäre mit seiner Annahme der entscheidende Durchbruch zu einer wirkungsvollen Klimawende bereits geschafft. Das aber ist bloss ein weiterer Versuch, das Volk hinters Licht zu führen. Denn das Gegenteil ist der Fall: Nach der Annahme des Gesetzes fängt die harte Arbeit erst richtig an. Dann reicht es nicht mehr, bloss zu reden, dann muss endlich gehandelt werden.

Christian Rentsch