Über einen «Systemwechsel» nachzudenken, ist für FDP-Ständerat Ruedi Noser «ideologischer Blödsinn». Er ist vermutlich nicht der Einzige, der so denkt. Aber vielleicht müssen wir lernen, noch viel radikaler zu denken als selbst die meisten jugendlichen Klimaaktivisten. Der Berliner Zukunftsforscher Stephan Rammler zeigt in einem brillanten Interview mit der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit», wo «Eusi Zuekunft» liegen könnte. Es sind unbequeme, aber notwendige Gedanken.

Stephan Rammler sagt es gleich in der Antwort auf die erste Frage: Die Jungen begreifen immer klarer, dass «Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit, Wirtschaftskrisen und Klimawandel einen gemeinsamen Ursprung haben: nämlich die politisch schlecht regulierbare kapitalistische Marktwirtschaft.» Für alle, die nach diesem provokativen Satz noch weiterlesen, hält Rammler einige höchst stringente, klarsichtige Begründungen und Erklärungen bereit.

Dabei geht es Rammler explizit nicht um die Einführung des Sozialismus, sondern – vielleicht noch viel radikaler – um eine drastische Veränderung der Machtverteilung zwischen den Generationen innerhalb der Demokratie. In den Siebziger- und Achtzigerjahren ging es, so Rammler, im Umweltschutz zum Beispiel darum, Filter in Schornsteine einzubauen oder Katalysatoren für Autos vorzuschreiben. Schon das war äusserst konfliktreich und kostete viel Geld. «Heute aber geht es um etwas noch viel Größeres und viel Umfassenderes – nämlich um Nachhaltigkeit. Sie ist weitaus konfliktreicher. Denn um sie zu erreichen, sind enorme Veränderungen nötig, die alle Bereiche unseres Lebens betreffen, nicht nur die Kosten für Filter und Katalysatoren.»

Am Beispiel der Verkehrspolitik: Früher musste ein Verkehrsminister eigentlich nicht viel mehr tun, als Straßen zu bauen und neue Bahnhöfe zu eröffnen. Er hat im Grunde Lebenschancen über Infrastruktur-Investitionen erweitert. Das war eine einfache und meist populäre Politik. (…) Heute müsste ein Verkehrsminister diese etablierten Ansprüche massiv begrenzen. Er müsste aus Klimaschutzgründen die fossilen Möglichkeitsräume reduzieren – ohne die Menschen in ihrer Mobilität allzu drastisch einzuschränken. Das erfordert einen völlig anderen Politikstil.» Heute müsse man in der Verkehrspolitik alles zusammendenken: Städtebau für kurze Wege, Digitalisierung für neue Dienstleistungen und technologische Effizienzgewinne. Und gleichzeitig müsse man die etablierten, über fünfzig Jahre eingeübten Mobilitätsroutinen verändern. «Diese Gewohnheiten sind mächtiger und veränderungsresistenter als alle in Stahl und Beton gegossenen Infrastrukturen.»

Diese radikale Änderung sei aber in der alternde Gesellschaft nur extrem schwer durchzusetzen, erstens, weil sich die ins Alter gekommene Generation der Babyboomer diese Mobilität und diesen Luxus erarbeitet habe und leisten könne, zweitens aber – noch wichtiger – weil «in einer alternden Gesellschaft zwangsläufig das Alte stabilisiert wird: alte Gewohnheiten, alte Einstellungen, alte Interessen.»

Rammler analysiert das Kernproblem völlig sachlich, ohne jeden anklägerischen Ton: «Der alte Generationenvertrag bestand sinngemäß auf folgender Abmachung: Die Älteren zogen die Jüngeren groß und übergaben ihnen die Welt in einem besseren Zustand – dafür sorgten die Jüngeren dann später für die Älteren, wenn diese nicht mehr selbst für sich sorgen konnten. Das funktionierte aber nur, meint Rammler, solange es ein Gleichgewicht zwischen den Generationen gab. Durch den demografischen Wandel aber sei ein enormes Ungleichgewicht entstanden.» Die Älteren, die aus einsichtigen Gründen tendenziell strukturkonservativer sind – warum soll sich in den wenigen Jahren, die sie noch zu leben haben, allviel ändern, wo es ihnen doch gut geht? – sind in der Mehrheit, während die Jüngeren politisch unterrepräsentiert sind, aber gleichzeitig immer größere soziale Lasten tragen müssen.

Rammlers Analyse wird man wohl kaum widersprechen können. Das dicke Ende aber kommt mit der Antwort auf die Frage, wie man das denn ändern könnte. Der neue Deal, so Rammler, «müsste darin bestehen, dass die Älteren ein Stück weit Macht abgeben und an die Jüngeren übertragen.» Etwa, indem man nur bis zu einem bestimmten Alter stimm- (und in der Schweiz dementsprechend auch wahl-)berechtigt sei – als analoges Beispiel erwähnt Rammler die Abgabe des Führerscheins. Etwas durchdachter scheint eine zweite Möglichkeit zu sein: «Man könnte Stimmen unterschiedlich gewichten, sodass jede Generation gleichmäßig vertreten ist.»

«Ich weiß», gibt Rammler zu, «dass das erst mal seltsam klingt, für manche vielleicht skandalös. Aber womit wir es gerade zu tun haben, sind mehrere Megatrends, die sich gegenseitig sogar noch verstärken: der Klimawandel, die Alterung, die Digitalisierung. Wahrscheinlich ist der Kapitalismus, so wie wir ihn heute in Westeuropa und Nordamerika erleben, einfach nicht kompatibel mit dem, was wir an Umwälzungen und Gerechtigkeitserwägungen in den kommenden Jahren bewältigen müssen. Da müssen ungewöhnliche Ideen erlaubt sein.» (CR)