Kaum in einem anderen Bereich ist die Rolle der Wissenschaft so umstritten wie in der derzeitigen Klimadebatte. Die Wochenzeitung WoZ und die Linth-Zeitung haben sich kürzlich mit dem Klimaphysiker Reto Knutti von der ETH-Zürich und mit Henrik Nordborg, Professor für Physik an der Hochschule für Technik (HSR) in Rapperswil, unter anderem über ihr Selbstverständnis zwischen Wissenschaft und Politik unterhalten.

Reto Knutti, Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich und einer der Hauptautoren des letzten IPCC-Sachstandsbericht von 2013/14, ist kein Mann des grossen Lärms, keiner, der Panik verbreitet und zum Dramatisieren neigt, um an Fördergelder heranzukommen, wie ihm die Weltwoche immer wieder bösartig unterstellt. «Unsere Aufgabe als Wissenschaftler sehe ich darin», sagt er in der WoZ, «möglichst gut zu informieren, wie die Zahlen aussehen. Wir müssen zu diesen Zahlen auch eine Geschichte erzählen, ihnen einen Kontext geben und versuchen zu erklären, was diese Zahlen bedeuten.»

Nicht zufällig engagiert sich Knutti auch als Vorsitzender von ProClim, einem Forum der Akademie der Naturwissenschaften, das sich als Schnittstelle zwischen Wissenschaft, öffentlicher Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit versteht. Eine Gratwanderung, denn in den vergangenen dreissig, vierzig Jahren haben Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit, also die Medien, oft nur jene wissenschaftliche Befunde zur Kenntnis genommen, die ihnen gerade in den Kram passten, ihren Zielen eine wissenschaftlich dokumentierte Glaubwürdigkeit verliehen.

«Man kann gewisse Dinge mehr oder weniger betonen»

Es braucht einige Toleranz und Flexibilität, um sich etwa mit der Art und Weise abzufinden, wie die Diplomaten aller beteiligten Staaten jeweils die Ergebnisse der IPCC-Reports für die «Zusammenfassungen für politische Entscheidungsträger» zurechtstutzen. Der britische Ethik-Professor John Broome bezeichnete das Prozedere aufgrund seiner eigenen Erfahrungen unmissverständlich als Zensur. Und auch der deutsche Klimaökonom Ottmar Edenhofer, der die Sitzungen zum IPCC-Report 2014 leitete, schrieb später, er finde es schade, dass «die Regierungen sich weigerten, diese Daten in der Zusammenfassung zur Kenntnis zu nehmen».

Knutti sagt es im WoZ-Interview etwas diplomatischer: «Die Regierungen können am Schluss über einzelne Formulierungen reden, wenn etwas für sie unverständlich ist. Aber sie können nichts reindrücken, was nicht stimmt. Sie können auch Themen benennen, die ihnen besonders wichtig sind, damit diese dann etwa in der Zusammenfassung vorkommen. (…) Das ist manchmal ein Seilziehen. Man kann gewisse Dinge mehr oder weniger betonen, ohne dabei die Wissenschaft zu verfälschen.»

«Wissenschafter haben die Tendenz, sich nicht auf die Äste hinauszuwagen»

Aber auch er sieht natürlich das Dilemma, in dem die Wissenschaften in einem gesellschaftlich dermassen wichtigen Bereich stecken. Wissenschafter hätten die Tendenz, sich mit ihren Aussagen nicht auf die Äste hinauszuwagen: «Findet man keinen Konsens, gibt es zwei Möglichkeiten: Man sagt gar nichts – und das ist fatal, denn so impliziert man, dass man nichts weiss. Oder man zeigt die Diskrepanz der Meinungen auf, was wissenschaftlich sicher die ehrlichste Variante ist. Für all jene aber, die auf dieser Grundlage entscheiden müssen, ist das wenig hilfreich.» Und er verweist dabei auf ein hochrelevantes «Detail»: Die meisten naturwissenschaftlichen Daten haben einen mehr oder weniger grossen Unsicherheitsbereich. Die Politik aber, das zeige seine Erfahrung, habe die Tendenz hat, nur den Mittelwert zu sehen und die Unsicherheiten und damit auch den Extremwert zu ignorieren. Dabei wäre man viel eher auf der sicheren Seite, wenn man mit einem extremen Szenario rechnen würde. Bei einem Kernkraftwerk rechne man schliesslich auch mit dem Schlimmsten, damit man bereit sei, wenn ein solche Fall eintrete.

Kann man als Wissenschafter «neutral» bleiben?

Kann man denn, so fragt die WoZ, als Wissenschafter «neutral» bleiben. Auch für Knutti schwierige Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. «Als Wissenschaftler machen wir Szenarien für die Zukunft, ohne a priori schon zu sagen, welches Szenario das bessere und welches das schlechtere ist. Wenn die Politik aber beschliesst, die Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius zu beschränken, wie sie es 2015 in Paris getan hat, dann ist es unsere Aufgabe, aufzuzeigen, was zur Erreichung dieses Zieles notwendig ist – nämlich die Emissionen bis spätestens 2050 auf netto null zu bringen. (…) Darüber hinaus ist es unsere Aufgabe, darauf aufmerksam zu machen, wenn die Politik nicht auf Kurs ist. Das geschieht rein faktenbasiert und hat nichts mit Politik zu tun.»

Dass Knutti diesen ohnehin schon etwas sehr engen Politikbegriff, der letztlich nur die explizit politischen Institutionen und Verfahren umfasst, nicht strikt durchhalten kann, leuchtet ein. Denn: Dass die Schweiz bei den Reduktionszielen für Treibhausgase bei weitem nicht auf Kurs, ist eine wissenschaftliche Aussage, ob und wie man diese Probleme aber mit einer Flugticketabgabe, mit Vorschriften für Autos, einem Verbot für den Einbau neuer Ölheizungen angeht, ist natürlich Politik.

Die wichtigsten Sätze aber sagt Knutti an Schluss des Interviews, und es ist egal, ob er sie als Wissenschafter oder als besorgter Bürger (und Vater) sagt: » Wir verstehen nicht alles, aber wir verstehen bei weitem genug, um die ersten Schritte machen zu können. Wir haben jetzt dreissig Jahre lang diskutiert. Wir können uns nicht erlauben, noch weitere zehn Jahre zu diskutieren.»

Darf die Wissenschaft sagen: «Es ist fünf nach zwölf»?

Da trifft er sich denn auch mit Henrik Nordborg, dem 52jährige schwedischen Wissenschafter, der in Rapperswil den Studiengang «Erneuerbare Energien und Umwelttechnik» leitet und vor allem auch im Internet, auf Facebook etwa, sehr präsent ist. Allerdings mischt sich Nordborg bei weitem mehr in den politischen Dialog ein als Knutti. Oft mit markanten, provokativen Sätzen wie «Auf ein Wunder hoffen, ist keine Strategie». Oder: «Machen wir weiter wie bisher, sind in rund 80 Jahren weite Teile der Erde unbewohnbar». Im Interview mit der Lindh-Zeitung bezieht Nordborg mit jedem Satz Stellung.

Sein explizites Kernanliegen: Die Notbremse ziehen! Ausflüchte, die viele Politikerinnen und Politikern ihren Wählern als Beruhigungspille anbieten, lässt er nicht gelten. Von all den wunderbaren Innovationen und Erfindungen, den neuen Treibstoffen oder sogenannten CCS-Anlagen, die CO2 aus der Atmosphäre absaugen und in unterirdischen Kavernen ablagern, die das Problem schon irgendwie lösen werden, hält er als kurzfristige Lösung nicht viel: «Es ist weit nach zwölf Uhr.» So bleiben für ihn also nur drastische politische Massnahmen und Verhaltensänderungen der Bevölkerung.

So plädiert er für eine wirksame, sehr hohe CO2-Abgabe. Nur so werde die Gesellschaft ihren CO2-Ausstoss endlich hinterfragen: «Irgendwann muss man sagen, die Freiwilligkeit hat nichts gebracht, ihr hattet eure Chance.»

Henrik Nordborg stellt die «Systemfrage»

Klar ist für ihn auch, dass es über die CO2-Abgabe hinaus weitere radikale Massnahmen braucht. Und er verweist im Interview auf einen Hauptwiderspruch der derzeitigen Klimapolitik. «Laut Pariser Abkommen sollen bis 2050 die CO2-Emissionen global auf Null gebracht werden. Aber gleichzeitig soll die Wirtschaft weiterhin jedes Jahr um zwei Prozent wachsen. Seit 1970 ist aber der globale CO2-Ausstoss korrelierend zum globalen Wirtschaftswachstum mitgewachsen. Ohne eine grosse Änderung des Wirtschaftssystems wird dieser Zusammenhang schwer zu entkoppeln sein.»

Da argumentiert Nordborg ganz in der Nähe der Klimakids von «Friday for Future», denen Knutti zwar mit viel Sympathie, aber auch etwas skeptisch gegenübersteht. Weltuntergangsszeierennarien und Panikmache, so Knutti, könnten zwar kurzfristig sehr viel Aufmerksamkeit auf Klimaerhitzung lenken und den Klimawandel auch auf der politischen Agenda nach vorne schieben, «letztlich aber lassen sich die Probleme nur durch rationale Analysen lösen». Das dürfte wohl auch Nordberg unterschreiben, bloss will plädiert er dafür, dass auch die Wissenschafterinnen und Wissenschaft überlassen, sondern sich als politischer Bürger auch dafür engagieren, dass die Politik vorwärts macht.

Und wie für die Klimakids gehört dazu auch die sogenannte «Systemfrage», die Frage also, ob das derzeitige Wirtschaftssystem überhaupt in der Lage ist, dieses brisanteste Problem der Menschheit, zu lösen. Das geht natürlich weit über den Forschungsbereich der Klimawissenschaft hinaus. Und trotzdem ist auch hier die Stimme der Wissenschafter gefragt. Auch sie dürfen dazu eine Meinung haben und sie auch öffentlich machen, ohne dass ihr wissenschaftliche Glaubwürdigkeit tangieren sollte. (CR)