Im kommenden März (korrigiert: September) entscheidet der Nationalrat (korrigiert: und Ständerat) aller Voraussicht nach über das CO2-Gesetz. Ergreift die SVP das Referendum, dürfte die Volksabstimmung über das Gesetz Ende 2020 (korrigiert: im Sommer 2021) stattfinden, also just in der Zeit, in der die öffentliche Debatte über die Gletscherinitiative anläuft. Das kann die Gletscherinitiative gefährden.

In der Frühlingssession im kommenden März (Juni) debattiert der Nationalrat über das CO2-Gesetz. Gibt es keine grösseren Differenzen mehr zum Ständerat, kann das Gesetz im Frühling (Herbst) publiziert werden. Daraufhin wird die SVP voraussichtlich das Fakultative Referendum ergreifen Dafür muss sie innerhalb von 100 Tagen 50’000 Unterschriften sammeln, für die wählerstärkste Partei der Schweiz kein Problem. Gemäss diesem Fahrplan käme das CO2-Gesetz dann am 29. November 2020 oder in der ersten Jahreshälfte 2021 (neu: in der zweiten Jahreshälfte 2021) Abstimmung.

Unglücklicherweise überschneidet sich dieser Fahrplan mit jenem der Gletscherinitiative, welche zwar längerfristige und weiterreichende Forderungen aufstellt als das CO2-Gesetz; inhaltlich aber geht es bei beiden Vorlagen um dasselbe: um den Ausstieg aus der fossilen Energiewirtschaft, um die Reduktion der Treibhausgasemissionen auf annähernd Netto Null..

Die Gletscherinitiative kommt frühestes in vier, fünf Jahren zur Abstimmung

Im Gegensatz zum Fahrplan für das CO2-Gesetz ist jener für die Gletscherinitiative noch nicht genau absehbar: Nachdem die Initiative am 27. November 2019 mit über 112’000 Stimmen eingereicht worden ist, hat der Bundesrat bis zum kommenden 27. November 2020 Zeit, sich eine Meinung zu bilden. Entscheidet er sich dafür, einen Gegenvorschlag auszuarbeiten (was er in der Zwischenzeit getan hat), verlängert sich diese Frist bis im Mai 2021. Das Parlament hat dann ein weiteres Jahr Zeit – also bis Mai 2022 -, um sich zu entscheiden, wie es weitergeht. Will das Parlament den Gegenvorschlag des Bundesrates prüfen und allenfalls abändern oder einen eigenen Gegenvorschlag ausarbeiten, verlängert sich diese Frist um weitere 12 Monate, also bis im Mai 2023. Dann folgt das bekannte Hin und Her zwischen Erst- und Zweitrat mit all seinen möglichen Umwegen. Eine Abstimmung über die Gletscherinitiative findet so aller Voraussicht nach frühestens 2025 statt. Bis der Verfassungsartikel dann in einem Klimagesetz umgesetzt wird, dauert es voraussichtlich noch einmal ein paar Jahre.

Wäre da nicht die dringliche Wirklichkeit, könnte man meinen, dieser Fahrplan sei fast perfekt: Die Gletscherinitiative könnte so die vielfach beschworene Verschärfung des CO2-Gesetzes sein, das 2030 abläuft. Ist es aber vermutlich nicht, weil in diesen kommenden Klimadebatten auch viele mächtige Kräfte mitreden und die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger beeinflussen, die seit eh predigen, dass alles ohnehin viel zu ambitiös, viel zu radikal, viel zu schnell und viel zu teuer sei. Sie bekommen durch diesen «Fahrplan» einige zugkräftige Trümpfe in die Hand – paradoxerweise erst recht dann, wenn sie die Abstimmung über das CO2-Gesetz verlieren. Die Grünen und die SP aber müssen den Stimmbürgern einige Dinge erklären, die sich inhaltlich kaum begründen lassen, weil sie vor allem abstimmungstaktisch motiviert sind, also sozusagen um zwei, drei Ecken herum gedacht werden müssen, um verstanden zu werden.

Der Reihe nach: Der Bundesrat, der das CO2-Gesetz formuliert hat und unterstützt, müsste also gemäss dem Parlamentsgesetz just einige wenige Tage vor der Volksabstimmung über das CO2-Gesetz eine Position beziehen, die vermutlich in wesentlichen Punkten gegen das CO2-Gesetz spricht. Seine Position wird aber schon Wochen zuvor bekannt werden; er muss nämlich zuhanden des Weltklimagipfels vom 9. bis 19. November in Glasgow bekanntgeben, mit welchen Massnahmen die Schweiz die Pariser Klimaziele zu erreichen gedenkt.

Das ist deshalb brisant, weil die Schweiz ihre vor vier Jahren deklarierten und eingereichten Klimamassnahmen deutlich verschärfen muss, um die völkerrechtlich verbindlichen Pariser Klimaziele zu erreichen. Diese «Nachbesserungen» werden weit über die Bestimmungen des CO2-Gesetzes hinausgehen und eher im Bereich der Forderungen der Gletscherinitiative liegen. Der Bundesrat wird also gleichsam das CO2-Gesetz, das er unterstützt, desavouieren müssen.

Vor allem die SP und die Grünen bekommen ein Glaubwürdigkeitsproblem

Die Befürworter des CO2-Gesetzes, so wie es derzeit im Nationalrat diskutiert und vermutlich auch beschlossen wird, vor allem aber die SP und Grünen, geraten dadurch ebenfalls in eine höchst missliche Lage: Sie müssen den Abstimmungskampf für ein Gesetz führen, das sie eigentlich ablehnen müssten, weil es nichts taugt. Sie müssen sich also bis zur Selbstverleugnung verbiegen und den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern etwas erklären, was mit einigermassen hellem Verstand gar nicht zu erklären ist: Warum man einem Gesetz zustimmen soll, mit dem sich der deklarierte Zweck dieses Gesetzes gar nicht erreichen lässt. Und das, kaum dass es beschlossen ist, sofort wieder entsorgt werden und durch eine verbesserte Vorlage ersetzt werden muss. Warum also nicht gleich für eine verbesserte Vorlage kämpfen, die hält, was sie verspricht?

Schuld an dieser Misere sind zwei verheerende Fehlüberlegungen. Erstens die Angst vor dem Volk. Und zweitens die ziemlich unlautere, aber lange verbreitete Behauptung wider besseres Wissen, dass Klimaschutz fast gratis zu haben sei. Genau dies aber suggeriert das CO2-Gesetz mit seinen Lenkungsabgaben und verharmlosend kleinen CO2-Abgaben auf Benzin und Diesel. Hinter beiden Überlegungen steckt ein höchst problematisches Politikverständnis: Man dürfe, meinen Politiker von links bis rechts, «das Fuder nicht überladen», dürfe die Bürgerinnen und Bürger nicht «überfordern», sondern müsse sie «mitnehmen». Das ist nur scheinbar eine realistische, in Tat und Wahrheit aber mutloses Politik.

Um es noch einmal zu wiederholen: Das ist das pure Gegenteil von gestaltender Politik. Der Trippelschrittchen-Politiker läuft einer (möglicherweise bloss eingebildeten) Mehrheit hinterher, immer sorgfältig darauf bedacht, nicht anzuecken. Gestaltende Politik dagegen würde heissen: Aufklären, argumentieren, kämpfen, überzeugen. Das aber setzt Glaubwürdigkeit voraus, und die Überzeugung, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mindestens ebenso vernünftig sind wie die Politiker.

Wie glaubwürdig aber sind Politiker, die für ein CO2-Gesetz weibeln, von dem sie selber zugleich sagen, dass es hinten und vorne nicht ausreicht? Wie ernst kann man Politiker nehmen, die allen Ernstes glauben, die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger hätten nicht längst gemerkt, dass das CO2-Gesetz eine Mogelpackung ist, weil es das dicke Ende nur hinauszögert? Wie steht es um die Glaubwürdigkeit von Politikerinnen und Politikern, die dauernd mit tief besorgter Miene publikumswirksam klagen, dass die Welt brenne, und zugleich nicht mit aller Vehemenz und aller Überzeugungskraft dafür kämpfen, dass nun endlich schnell, sehr schnell gehandelt wird?

Das CO2-Gesetz ist eine Vorlage für die Gegner der Gletscherinitiative

Noch gefährlicher aber ist für die Gletscherinitiative (oder einen ähnlich weitgehenden Gegenvorschlag des Bundesrates) ein vielfach erprobtes und leider höchst wirkungsvolles Argument, das den Gegnern der Gletscherinitiative bei der Annahme des CO2-Gesetzes gleichsam in den Schoss fällt. Es wird nicht bloss von den ewigen Klimabremsern der SVP, den Wirtschaftsflügeln der FDP und CVP, den Wirtschaftsverbänden, der Auto- und Fluglobby genutzt werden, sondern dürfte auch vielen verunsicherten Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern einleuchten, die den CO2-Befürwortern geglaubt haben, dass Klimaschutz zum Billigtarif zu haben sei. Sie sind, wie Umfragen zeigen, zwar irgendwie für Klimapolitik, aber «doch bitte sehr nicht für eine so radikale». Sie werden, heftig angefeuert von den Klimabremsern, argumentieren: Jetzt hört doch endlich auf mit dieser Zwängerei! Mit der Annahme des CO2-Gesetzes ist doch schon ganz ordentlich viel erreicht worden. Und: Haben nicht sogar die Grünen und die Sozialdemokraten selbst bei der Beratung des CO2-Gesetzes darauf verzichtet, weitergehende Massnahmen zu fordern? (CR)