Es gehört zu den beliebtesten Märchen von links bis rechts, von der FDP und CVP/BDP bis zu den Grünen, der GLP und der SP, dass»das Volk» einfach noch nicht bereit sei für wirklich wirksame Klimaschutzmassnahmen. Und man deshalb das gefällige, aber auch wirkungslose CO2-Gesetz durchwinken müsse. Denn man dürfe «das Volk» nicht «überfordern», sondern müsse es «mitnehmen». Aber: Stimmt dieses Märchen überhaupt?
Die neueste Umfrage zu diesem Thema stammt von der Universität St. Gallen, von Rolf Wüstenhagen, Julia Cousse und Merla Kubli. Im Rahmen ihrer repräsentativen Umfrage «10. Kundenbarometer erneuerbare Energien» befragten sie im Januar 1000 Personen zwar nicht zum CO2-Gesetz, sondern zur Energiestrategie; dennoch sind die Antworten aufschlussreich: 55 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass «die Umsetzung der Energiestrategie 2050 zu langsam vorankommt, nur 12 Prozent finden, dass es zu schnell geht». Die FDP- und CVP-Wähler hinken zwar mit knapp unter 50 Prozent etwas hintendrein, aber zusammen mit den 80 und plus Prozenten der Grünen, der GLP und der SP – und immerhin 30 Prozent der SVP-Wähler(!) – würde das längstens ausreichen, um schneller und damit wirkungsvoller vorwärtszumachen.
Eine Mehrheit für die Gletscher-Initiative
Noch erstaunlicher ist ein Ergebnis im Hinblick auf die Gletscher-Initiative, die Netto Null bis 2050 fordert: 67 Prozent, also über zwei Drittel der Befragten würden sicher (41 Prozent) oder eher (26 Prozent) für die Initiative stimmen, nur 18 Prozent sind gegen die Initiative.
Das entspricht in etwa der letzten Vimentis-Umfrage, in welcher etwas früher (November 2019 bis Januar 2020) über 20’000 stimmberechtigte Bürgerinnen und Bürger befragt worden sind: Hier sind 58 Prozent der Stimmberechtigten dafür, dass die Schweiz bis spätestens 2050 aus Öl, Gas und Kohle aussteigt, um die CO2-Nettoemissionen auf Null – das Ziel der Gletscher-Initiative – zu senken. 30 Prozent wollen das nicht, 12 Prozent sind unentschieden.
Wie die NZZ vom 19. Februar schreibt, ist der Klimawandel im sogenannten Sorgenbarometer von Vimentis vom 9. Rang im Vorjahr auf Platz drei vorgerückt, hinter der Altersvorsorge und der Asylpolitik. Nicht gefragt wurde in der Umfrage nach den Gründen für diesen rasanten Wandel in der Bewertung des Klimakrise. Man darf aber vermuten, dass dies weder Roger Köppels Weltwoche zu verdanken ist noch den grossen Meinungsartikeln in der NZZ oder den Tamedia-Blättern, die durch ihr klimapolitisches Hüst und Hott eher für Verwirrung als für Klarheit sorgten.
Auch die politischen Parteien haben nicht gerade mit klimapolitischer Stringenz und Überzeugungskraft brilliert. Was wohl mit dazu beigetragen hat, dass «die allgemeine Zufriedenheit mit der Politik» von miserablen 38 auf noch miserablere 36 Prozent abgesunken ist. Eigentlich sehen 62 Prozent der Befragten die Politik in der Pflicht, klimapolitisch zu handeln, was man angesichts der obigen Resultate vermutlich dahingehend interpretieren darf, dass die Politik eher mehr als weniger Gas geben soll. Zu verdanken ist dieser Meinungsumschwung – oder «Wertewandel» – wohl am ehesten den jugendlichen Klimaaktivisten, die mit ihren weltweiten Aktionen das Thema im vergangenen Jahr ins Bewusstsein der Bevölkerung katapultiert haben.
Muss der Klimaschutz warten, bis die Wirtschaft gerettet worden ist?
Zu den beliebtesten Ausreden, warum man trotz allem das untaugliche CO2-Gesetz jetzt möglichst lautlos und auf Samtpfötchen über die Runde bringen müsse, gehört die (vorderhand völlig unbewiesene) Behauptung, dass seit Corona alles wieder ganz anders sei und das Klima angesichts der wirtschaftlichen Probleme ohnehin kaum mehr jemanden interessiere.
In der Schweiz gibt es dazu keine aktuellen Zahlen. In Deutschland allerdings schon. So ergab eine repräsentative Umfrage des Instituts Forsa im Auftrag der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), dass 59 Prozent der Bundesbürger ab 14 Jahren überzeugt sind, dass die Klimakrise langfristig grössere Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft habe als die Coronakrise. (93 Prozent der Befragten halten es übrigens auch für wichtig, dass «Meinungen und Analysen der Wissenschaft stärker einbezogen würden als bisher.“ Eine Empfehlung, die sich auch die Umweltministerin Simonetta Sommaruga zu Herzen nehmen könnte, die zwar mit der OcCC ein hochkarätiges wissenschaftliches Beratergremium hat, sich aber, wie man weiss, weitgehend um dessen Meinung foutiert.)
Wirtschaftspolitik muss auch Klimapolitik sein
Und: Ganz gegen alle Druckversuche der mächtigen Industrie-Lobbys, etwa der Autoindustrie, die ja in Deutschland eine systemrelevante Bedeutung hat, zeigt die neueste ARD-Umfrage «Deutschlandtrend», dass über 80 Prozent der Befragten die «Rettung» der deutschen Autoindustrie durchaus mit klimapolitischen Auflagen verbinden wollen. Auch in einer im Mai veröffentlichten Umfrage im Auftrag des deutschen Naturschutzbundes (Nabu) erklärten 91 Prozent der Befragten, dass künftige Konjunkturprogramme mit klima- und umweltfreundlichen Auflagen für die Wirtschaft verbunden werden müssen.
In einer weiteren, im April veröffentlicheten Umfrage des Instituts Ipsos waren 69 Prozent der Befragten der Meinung, der Klimawandel sei ebenso ernst zu nehmen wie die Covid-19-Pandemie.
Das Volk muss nicht «abgeholt» werden
Was beweisen all diese Zahlen, all diese Meinungsumfragen? Zugegeben nichts. Aber sie sind ein starkes Indiz dafür, dass «das Volk» längst nicht mehr hinter dem Mond ist, dass die Mehrzahl der Stimmbürgerinnen und -bürger sehr wohl weiss, warum es geht. Das heisst: Man muss «das Volk» nicht irgendwo «abholen» und «mitnehmen», es ist nicht «überfordert» mit der Wahrheit. Das Volk erwartet aber von der Politik, dem Bundesrat, den Parteien, dem Parlament, dass diese überzeugend darlegen, was zu tun sei, um die Klimaziele 2030 und das 1.5-Grad-Ziel und Netto Null bis 2050 wirklich zu erreichen. «Das Volk» will überzeugt werden, mit starken Argumenten statt faulen Ausreden, mit Engagement, Mut und Konsequenz statt mit Opportunismus und Polittricksereien. Es will Politikerinnen und und Politiker, die nicht aus Angst vor dem Volk kleinlaut herumdrucksen und so tun, als würden sie schon wollen, wenn nur das Volk nicht so dumm wäre. Am kommenden Dienstag haben die Grünen, die GLP, die SP und die FDP-Ökos Gelegenheit zu zeigen, ob sie wirklich gewillt sind, das 1.5-Grad-Ziel zu erreichen oder ob sie wieder einmal bloss so tun. (CR)