Zwei Tage lang warnten die Mächtigen der Welt in Glasgow fernsehgerecht vor der Apokalypse und überboten sich mit leidenschaftlichen Bekenntnissen zum Klimaschutz; seither streiten sich die Delegierten fernab der grossen Scheinwerfer immer noch um das sogenannte «Regelbuch» zum bereits sechs Jahre alte Pariser Klimaabkommen.
Man braucht kein Hellseher oder Prophet zu sein, um eines schon jetzt zu wissen: Was immer in Glasgow beschlossen wird – es wird, gemessen an dem, was dringlich und unabdingbar notwendig wäre, bei Weitem nicht ausreichen, um die Menschheit vor einer Katastrophe zu bewahren. Die Diskrepanz zwischen den grossen Worten und kleinen Taten, zwischen den vollmundigen Versprechen und dem, was die Staaten tatsächlich bereit sind zu tun, ist immens. Denn neben einigen sehr vagen und unverbindlichen neuen Ankündigungen, etwa einem «Methanversprechen» oder dem Vorsatz, irgendwann einmal mit der Abholzung der Wälder aufzuhören, geht es vor allem darum, sich endlich nach fünf verlorenen Jahren darauf zu einigen, was man denn eigentlich im Pariser Abkommen beschlossen haben könnte.
Kurz: Es geht in der Hauptsache um die Bereinigung der «Betriebsanleitung» des Abkommens, also wie transparent und offen die Staaten über ihre Bemühungen informieren müssen, mit welchen Methoden diese gemessen und vergleichbar gemacht werden sollen, nach welchen Regeln der Zertifikatehandel funktionieren soll etc.
Die Emissionen werden auch künftig weiter steigen
Alles weitere, also all das, was die Regierungschefs und Präsidenten von Joe Biden bis Angela Merkel so vollmundig beschworen und verkündet haben, nämlich wie die Treibhausgasemissionen tatsächlich vermindert werden können, sollen und müssen, steht in Glasgow kaum zur Debatte.
Denn die entscheidenden Weichen sind schon vor dem Gipfel gestellt worden. Was als Kickoff gedacht war, der G20-Gipfel der wichtigsten Industriestaaten der Welt, die zusammen für über 80 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich sind, hat faktisch das Schicksal der Konferenz schon vor deren Beginn besiegelt: Xi Jinping und Wladimir Putin, ohne deren Einverständnis es keine Lösung geben kann, reisten erst gar nicht an, Joe Biden hat zwar grosse Pläne, aber nicht die Macht, diese im Kongress auch durchzusetzen. Die EU hat ihr wohlklingendes Klimapaket «Fit for 55» schon im Juli beschlossen, ist aber so heillos zerstritten, dass es in der angekündigten Form ohnehin nicht durchgesetzt werden kann.
China und Indien setzen weiterhin auf Kohle
Und: China und Indien forcieren zwar den Ausbau erneuerbarer Energien, aber ihre übergeordneten wirtschaftlichen Wachstumsziele sind so gigantisch, dass sie zugleich auch weiterhin auf Kohle setzen, um ihren Energiebedarf decken zu können.
Indien will zwar neuerdings bis 2070 klimaneutral werden. Das ist aber nicht bloss 20 entscheidende Jahre zu spät, es passt auch schlecht zum kürzlichen Beschluss der Regierung Modi, in den nächsten Jahre unter anderem 40 neue Kohlengruben zu erschliessen. Laut der Plattform Climate Action Tracker (CAT), welche die Klimaziele der einzelnen Länder überprüft, müsste Indien aber bis 2040 vollständig aus der Kohlekraft aussteigen, um seine selbstgesetzten Ziele zu erreichen.
China, das allein schon über 30 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen ausstösst, will zwar bereits 2060 klimaneutral sein, aber vorerst ebenfalls noch kräftig zulegen: Derzeit sind über 200 neue Kohlekraftwerke in Bau oder in Planung. Chinas Klimapolitik ist laut CAT auf dem Weg zu einer Erderwärmung von drei bis vier Grad.
Diese Aussichten sind deshalb so fatal (und praktisch irreversibel), weil von jeder emittierten Tonne CO2 fast die Hälfte über mehrere hundert Jahre in der Atmosphäre verbleibt. Das heisst: Selbst wenn die weltweiten Emissionen bis 2030 halbiert würden, steigt die CO2-Konzentration in der Atmosphäre auch weiterhin so lange an, bis die ganze Welt klimaneutral geworden ist.
Nur Gambia ist auf 1.5-Grad-Kurs
Wie ernst es den Unterzeichnern des Pariser Klimaabkommens wirklich ist, zeigt sich unter anderem an der Debatte um die sogenannten «Nationally Determined Contributions» (NDCs), jenen nationalen Klimaschutzplänen, zu denen sich die einzelnen Staaten gemäss dem Pariser Abkommen 2015 freiwillig verpflichtet haben, die aber alle fünf Jahre überprüft und entsprechend nachgebessert, das heisst: verschärft werden müssen. Die erste «Nachbesserung» hätte bereits im Februar 2020 erfolgen sollen, wurde aber um ein Jahr verschoben, unter anderem weil die Mehrheit der Vertragspartner gar keine neuen Klimaschutzpläne eingereicht hatte. Aber auch diesen zweiten Termin liessen 77 Staaten verstreichen, neun weitere haben ihre ungenügende Selbstverpflichtung nicht oder nur unbedeutend verschärft. Von Katastrophenbewusstsein also keine Spur.
Aber noch schlimmer: Von den 37 Ländern (plus den 27 EU-Staaten), die CAT unter die Lupe genommen hat, ist einzig und allein das kleine Gambia fast auf 1.5-Grad-Kurs. Die NDCs von dreissig Länder, darunter fast alle reichen Schwergewichte wie Deutschland, Japan, die USA, Kanada, Australien Norwegen und die EU, aber auch China, Indien und Brasilien, sind «unzureichend». Und fünf Staaten, darunter Russland, sind «critically insuffizient», also sogar völlig ungenügend.
Der Weltklimarat rechnet mit einer Temperaturerhöhung von 2.7 Grad
Zusammengefasst: Anstatt dass die Unterzeichnerstaaten ihre Treibhausgase wie vereinbart bis 2030 gegenüber 2010 um die Hälfte reduzieren, werden diese im Gegenteil um rund 16 Prozent zunehmen. Das führt, heisst es unter anderem im «NDC-Bericht«, den das UN-Klimasekretariats kurz vor dem Glasgow-Gipfel vorgestellt hat, zu einer Erderwärmung von rund 2,7 Grad Celsius.
Und das sind wohlgemerkt erst Zielvorgaben; was sie tatsächlich wert sind, wird sich erst dann weisen, wenn es darum geht, diese auch tatsächlich umzusetzen, also in konkrete Massnahmen zu giessen. Und wenn ihre Nichterfüllung auch Folgen hat – bis jetzt kann die UN keine Sanktionen ausprechen, obwohl das Pariser Klimaabkommen völkerrechtlich verbindlich ist.
Auch die wohlhabenden Industrieländer drücken sich um ihre Verantwortung
Ähnlich schlecht steht es auch um die Finanzhilfen für die ärmeren Länder des globalen Südens. Bereits 2009 haben sich die wohlhabenden Industriestaaten bereit erklärt einen «Green Climate Fund» einzurichten und zunehmend bis 2020 mit jährlich 100 Milliarden Dollar zu alimentieren. Damit soll vor allem jenen Ländern geholfen werden, die am wenigsten zur Klimaerhitzung beigetragen haben, aber (bereits heute) am meisten darunter leiden.
Das ist, wie Klimaökonomen errechnet haben, zwar bestenfalls ein Tropfen auf einen heissen Stein, denn insgesamt werden jährlich mehrere Billionen Dollar notwendig sein, um die Entwicklungs- und Schwellenländen bei der Umstellung auf erneuerbare Energien, bei der Anpassung an den Klimawandel, bei der Schadenbewältigung zu unterstützen. Aber: Bis 2019 kamen laut OECD bloss knapp 80 statt 100 Milliarden zusammen.
Das Interesse der reichen Länder am globalen Klimaschutz hält sich also entgegen den leidenschaftlichen Appellen in engen Grenzen. Es ist aber – auch jenseits moralischer Verpflichtungen – auch politisch denkbar dumm. Denn es bewog die betroffenen Länder unter Führung von China und Indien, schon in den Vorbereitungstreffen klarzumachen: Ohne mehr Geld im «Green Climate Fund» kein Entgegenkommen bei anderen wichtigen Traktanden; das ist eine starke Drohung, denn alle Beschlüsse der Konferenz müssen einstimmig gefasst werden.
Die Schweiz mischelt eifrig mit
Auch die Schweiz, die sich bis zur Ablehnung des CO2-Gesetzes aus unerklärlichen Gründen für eine Vorreiterin im internationalen Klimaschutz hielt und den anderen Ländern gern die Leviten las, verhält sich wenig rühmlich. Sie mischelt kräftig mit; es geht, wie fast immer bei der Schweiz, um Geld und eigene Vorteile. Etwa um die umstrittene Möglichkeit, den Klimaschutz gleichsam «outzusourcen», indem man «grüne Projekte», etwas Waldaufforstungen oder Windräder, in armen Ländern finanziert und sich die Einsparungen im eigenen Land gutschreiben lässt. Das ist schon vom Grundsatz her fragwürdig – warum sollen sich reiche Ländern einfach von ihren Verpflichtungen freikaufen können? -, es ist auch eher kurzsichtig gedacht, weil man damit die Verminderung der Emissionen im eigenen Land ja nicht los wird, sondern sie einfach auf später verschiebt. Denn bis 2050 müssen alle Länder, also auch die Schweiz, nicht bloss auf dem Papier, sondern faktisch klimaneutral sein.
Aber sogar noch innerhalb dieses fragwürdigen Systems versucht die Schweiz einen Vorteil hinauzuschinden: Sie will, dass die gesamten CO2-Einsparungen aus diesen Kuhhändel nur dem eigenen Konto angerechnet werden. Vordergründig kämpft die Schweiz gegen «Doppelzählungen». Bloss: Dass man die Einsparungen auch zwischen den Zertifikat-Verkäufern und -Käufern aufteilen könnte, mag man in der Schweizer Delegation nicht gern hören.
Zu den kleineren Tricksereien der Schweiz gehört aber auch, dass sie ihre Beiträge für den Green Climate Fund weitgehend mit umverteilten Geldern aus den bisherigen Entwicklungsprojekten der Seco und Deza finanzieren will, obwohl das Pariser Klimaabkommen dies ausdrücklich untersagt (Artikel 4).
Zwischen Ratlosigkeit und Zynismus
Kein Zufall also, dass die Schweizer Medien, die im Vorfeld des Klimagipfels mit seitenlangen Berichten und Interviews hohe Erwartungen herbeigeschrieben haben, sich mittlerweile in einer, sagen wir, «gemischten Gefühlslage» befinden. Wie übers Scheitern schreiben, ohne den Begriff Scheitern zu gebrauchen? So richtig hemmungslos wütet bisher bloss die NZZ, die ihren Zynismus als Realismus tarnt und schon vor der Konferenz höhnte, selbst eine Erhitzung von 2.7 Grad sei doch schon ein ganz schöner Erfolg, schliesslich habe man vor Jahren noch mit 3 Grad und mehr gerechnet.
Glasgow, so Sven Titz in der NZZ vom 27. Oktober, sei halt nichts für naive «Traumtänzer». Wobei er als Traumtänzer offensichtlich nicht nur die ohnehin verachtete Klimajugend versteht, sondern auch all jene, die immer noch darauf bestehen, dass den grossen Worten auch einige Taten folgen müssten und die Abmachungen des Pariser Klimaabkommens auch tatsächlich eingehalten werden sollten. Chefredaktor Eric Gujer doppelte am 30. Oktober voller Häme nach: «In der ersten, der romantischen Phase der Klimapolitik ging es darum, das Thema durch dramatische Appelle und überschäumende Emotionen auf die Tagesordnung zu setzen. Hier leistete die Klimajugend einen Beitrag, aber sie hat ihre Schuldigkeit getan.»
Wir brauchen sie dringend, die Klimajugend, die Klimastreiker und -demonstranten
Natürlich ist genau das Gegenteil notwendig: Ohne neuen gewaltigen Druck der Klimajugend bleiben die grossen Worte der Regierungschefs und Präsidenten, die nächsten paar Jahre würden über das Schicksal der Menschheit entscheiden, nur leeres Gerede oder Blablabla, wie Greta Thunberg zu Recht moniert. Denn die Festrednerinnen und -redner der ersten zwei Tage in Glasgow haben einiges immer noch nicht verstanden:
Es fehlt ihnen die Einsicht, dass die Klimaentwicklung irgendwo knapp über 1.5 oder 2 Grad Erwärmung unkontrollierbar wird, dass sie dann weltweit verheerende irreversible Schäden anrichtet und die Lebensgrundlage von Hunderten von Millionen Menschen zerstören wird und uns alle bereits in wenigen Jahrzehnten bedroht.
Es fehlt bei fast allen Regierungen der Wille, diese Katastrophe mit allen (!) Mitteln zu verhindern, auch wenn das Verzicht bedeutet und uns alle teuer zu stehen kommt. Man will auf nichts verzichten, weder die Regierungen und die Wirtschaft noch viele Konsumentinnen und Konsumenten. Dass wir am billigsten davonkämen, je schneller und strikter wir handeln, weiss zwar jede, sagt zwar jeder, bloss entsprechend handeln wollen wir dann lieber doch nicht.
Und es fehlt schliesslich an Verantwortungsbewusstsein und Solidarität gegenüber jenen, die heute schon in Dürre- und Überschwemmungsgebieten, in der Sahelzone wie im Mittelmeerraum, in Amerika und Asien hungern und leiden, auch gegenüber jenen Armutsstaaten, welche die Industriestaaten anklagen und anflehen, mehr zu tun, damit auch sie menschenwürdig leben können. Da will man dann doch lieber dafür sorgen, dass dem «kleinen Mann» eine offenbar überlebenswichtige minimale Benzinpreiserhöhung erspart bleibt und die einheimische Wirtschaft sich ohne lästige Klimavorschriften frei «entfalten» kann. Vor allem aber fehlt es an ehrlichem Verantwortungsbewusstsein gegenüber jenen späteren Generationen, welche die Katastrophen ausbaden müssen, die wir ihnen aus Egoismus und Gleichgültigkeit einbrocken. (CR)