Nach einem 20-stündigen Verhandlungsmarathon hat sich das sogenannte Klimakabinett in Berlin am vergangenen Freitag auf ein Paket von Massnahmen zum Erreichen der Klimaziele 2030 geeinigt. Die Experten, die Oppositionsparteien, die Klimaaktivisten und die Umweltverbände sind entsetzt, die deutsche Autoindustrie reibt sich wieder einmal die Hände.

Kurze Vorgeschichte: Auf diesen Samstag hat UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Staats- und Regierungschefs aller UN-Mitgliedstaaten zu einem dreitägigen Klimagipfel nach New York eingeladen, versehen mit einem dramatischen Aufruf, nun wirklich mit dem Klimaschutz vorwärts zu machen und «konkrete, realistische Pläne» vorzulegen.

Deutschland, das sich lange Zeit selber gern als Klimavorreiter fühlte, inzwischen aber eher weit hinten in der Klimakarawane mitwatschelt, wollte nicht wie die Schweiz mit nichts als ein paar frommen Sprüchen in New York antraben. So erfand die deutsche Bundeskanzlerin anfangs des Jahres, als sichtbar wurde, dass Deutschland nicht einmal das selbst gesetzte Klimaschutzziel für 2020 schaffen wird, das sogenannte Klimakabinett; getreu dem Motto aller Regierenden, die wenig Lust haben, Entscheidungen zu treffen: «Wenn du nicht mehr weiter weisst, gründe einen Arbeitskreis.»

Gesiegt haben die Bremser

Während mehr als einem halben Jahr wurden Papiere geschrieben und fantastische Pläne ausgeheckt – Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) etwa überraschte die Öffentlichkeit einem «planlosen Sammelsurium» an Einzelmaßnahmen, wie die Opposition anmerkte: «Milliarden an Subventionen und wilde Ankündigungen für Elektromobilität, Öffentlichen Nahverkehr und Radwege haben schon in der Vergangenheit nur eines erfolgreich geschafft: Geldverschwendung ohne Wirkung.» Ob dieses Feuerwerk an Ideen hält, was es verpricht, ist völlig unklar und selbst innerhalb der Bundesregierung umstritten; überprüfen lässt sich das, so die Süddeutsche Zeitung, allerdings nicht. Die sogenannten Kreuzgutachter des Forschungsministeriums, die unabhängig alle strittigen Zahlen überprüfen sollten, hätten die nötigen Daten erst vier Wochen nach der Frist erhalten. Sie seien aber so dürftig gewesen, dass die Gutachter «kapituliert» hätten.

Es wurde ge- und vertagt, gestritten, versprochen und abgewimmelt bis zum gestrigen Finale, das nach dem inzwischen üblichen Prozedere verlief: Wer am längsten die Augen offen halten kann, hat gewonnen.

Gewonnen haben die deutsche Autoindustrie und ihre beiden getreuesten Fürsprecher, die Bundeskanzlerin und ihr Verkehrsminister Scheuer. Gewonnen haben die CDU- und CSU-Vertreter im Klimakabinett, die schon immer meinten, dass der Klimaschutz eigentlich ein Ankurbelungsprogramm für die deutsche Wirtschaft sei. Und gewonnen hat auch Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz, der gern Kanzler werden möchte und mit seinem Mantra von der Schwarzen Null im Haushaltsplan schon mehrmals seine Parteigenossin, die engagierte Umweltministerin Svenja Schulze, auflaufen liess.

Ein Sammelsurium von längst überfälligen Vorschlägen

Das Wichtigste also in Kürze:

  • Deutschland führt, wie von fast allen Experten gefordert, einen CO2-Preis für alle fossilen Energieträger ein, allerdings erst im Jahr 2021 und mit einem sehr niedrigen Einstiegspreis von nur 10 Euro pro Tonne. (Der Preis europäischer Zertifikate liegt derzeit bei rund 26 Euro.) Der Preis steigt bis 2025 schrittweise auf 35 Euro. Danach wird nur noch ein sogenannter Preiskorridor von mindestens 36 und maximal 60 Euro festgelegt so wie eine maximal Emissionsmenge, welche ab dann von Jahr zu Jahr sinken soll. Organisiert werden soll dieser CO2-Preis dann über den freien Markt durch einen Zertfikatehandel der Mineralölinporteure.
  • Umgerechnet auf die Benzin- und Dieselpreise ergibt das eine anfängliche Verteuerung von 3 Cent pro Liter, ab 2026 dann weiter auf 9 bis 15 Cent je Liter.
  • Abgefedert wird diese Verteuerung durch eine Pendlerpauschale, die ab 2021 um 5 Cent auf 35 Cent pro Kilometer angehoben wird. Sie hebt die Benzinpreiserhöhung praktisch wieder auf.
  • Wer eine alte Ölheizung gegen ein klimafreundlicheres Modell austauscht, Fenster ersetzt oder sein Hausdach dämmt, soll gefördert werden. Ab 2026 soll der Einbau neuer Ölheizungen verboten werden. 
  • Ab 2021 soll die Einspeisevergütung zur Förderung des Ökostroms gesenkt werden. Dadurch entfällt zwar der Anreiz für Private, Solaranlagen zu installieren, dafür sinken die Stromkosten; so sollen Bürger und Firmen bei den hohen Strompreisen entlastet werden.
  • Die Mehrwertsteuer auf Bahntickets im Fernverkehr soll gesenkt werden, die Luftverkehrssteuer für Inlandflüge soll gleichzeitig zum 1. Januar 2020 von 7.38 auf 14.76 Euro verdoppelt werden, ausgenommen bleiben Zubringer- und Auslandflüge. So wird nach Meinung der Bundesregierung das Fliegen unattraktiver, die Bahn dagegen attraktiver.
  • Bis 2030 sollen insgesamt 1 Million öffentlich zugänglicher Ladestationen für E-Mobile gebaut werden. Ein entsprechendes Förderprogramm soll allerdings nur bis 2025 laufen.
  • Wie die sogenannte Kohlekommission in diesem Frühling beschlossen hat, soll Ausstieg aus der Kohlindustrie bis 2038 mit einem Kohleausstiegsgesetz angepackt werden.
  • Das kann allerdings nur gelingen, meinen die Experten, wenn der Ausbau erneuerbarer Energien auf Kurs bleibe. Derzeit ist Tatsache ist aber, dass vor allem der Bau neuer Windräder praktisch zum Erliegen gekommen ist. Das Klimapapier sieht sogar eine Verschärfung der Situation vor: Der Mindestabstand zu Wohngebieten soll neu 1000 Meter betragen. Trotzdem  soll der Anteil an Ökostrom bis 2030 auf mindestens 65 Prozent Ökostrom ansteigen.
  • Mit einer Reihe von Massnahmen sollen zahlreiche Projekte etwa im Bereich des Öffentlichen Verkehrs, der Land- und Forst-und Abfallwirtschaft, aber auch der Forschung und Entwicklung gefördert werden. 
  • Da für alle Sektoren (Verkehr, Industrie, Gebäude, Landwirtschaft etc.) individuelle Reduktionsziele festgelegt werden, soll ein Monitoring-System jedes Jahr überprüfen, ob die Ziele eingehalten worden sind. Schaff ein Sektor sein Ziel nicht, muss er die Lücke durch zugekaufte «Verschmutzungszertifikate» füllen.  
  • Insgesamt hat dieses  Klimapaket ein Volumen von rund 54 Milliarden Euro. Zur Finanzierung sollen aber keine neue Schulden gemacht werden. Klimaökonomen bezweifeln, dass dies Funktionieren könnte, weil die vorliegenden Schätzungen alles andere als belastbar seien.

Was derzeit vorliegt, ist nicht mehr als ein sogenanntes Eckpunktepapier. Das Paket formuliert zwar  Ziele, aber nicht, wie diese erreicht werden können. Bis es, durch zahlreiche Änderungen, Ausnahmeregelungen, Abspaltung von Teilbereichen und andere «Verbesserungen» ergänzt, als Klimaschutzgesetz rechtskräftig wird, dürfte es eine Weile dauern.

Teure Fördermassnahmen für kleine Wirkungen

Was ist von diesem Klimapaket, das CSU-Chef Söder als «Marshallplan für den Klimaschutz“, Vizekanzler Olaf Scholz als «Grossen Wurf» bezeichnet, zu halten? Zuerst vor allem einmal dies: Mit diesem Reformpaket, da sind sich ausser den vorläufigen «Siegern» alle einig, lassen sich weder die Ziele 2030 noch die Ziele des Pariser Klimaabkommens für das Jahr 2050 erreichen. Von den „disruptiven Veränderungen», welche Bundeskanzlerin Merkel angekündigt hat, um diese „Menschheitsherausforderung“ zu meistern, keine Spur.

Einhellig einer Meinung sind sich alle Experten und Klimaökonomen, dass der Einstiegspreis von 10 Euro viel zu tief ist, um irgendwelche Lenkungswirkungen zu erzielen.

Konkrete Massnahmen, mit denen die fossilen Energien nicht bloss kompensiert, sondern bis 2030 faktisch um mehr als die Hälfte gegenüber 1990 reduziert und bis 2050 gänzlich eliminiert werden sollen – und zu nichts anderem hat Deutschland sich verpflichtet – sucht man vergeblich. Statt dessen will man, schreibt Joachim Wille in der Frankfurter Rundschau mit einem Sammelsurium von teuren Fördermaßnahmen die Menschen zum klimafreundlichen Handeln bewegen. Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit schrieb, als die ersten (inzwischen bestätigten) Zahlen durchsickerten: «So wie es aussieht, tut diese Regierung das, was sie immer getan hat: Hier schmeisst die Probleme mit Geld zu.»

Joachim Wille bemängelt vor allem auch, dass sich das Klimakabinett nicht einmal getraut hat, die Subventionen von jährlich rund 50 Milliarden Euro für die wirtschaftsfreundliche, aber klima- und umweltfeindliche Förderung unter anderem von Diesel, Kerosin, Pendler etc. anzutasten: «Sie verhindern, dass Kostenwahrheit entsteht, klimaschädliches Verhalten teuer wird und klimafreundliches Verhalten sich lohnt.»

Das Klimapaket sei zwar kein Totalausfall, und es fänden sich einige längst überfällige Massnahmen darin, so etwa das Verbot von neuen Ölheizungen, insgesamt aber würden die geplanten Einzelmassnahmen laut einer Aufstellung des Klimakabinetts gerade einmal die Hälfte der bis 2030 notwendigen Einsparung bringen. Ein Totalausfall sei aber der anvisierte CO2-Preis in den Sektoren Verkehr und Gebäude. Der Einstieg sei homöopathisch. Und die Erhöhung der Spritpreise um 3 Cent sei weniger als die üblichen Schwankungen des Preises an der Zapfsäule.  

Enttäuschung, Wut und Protest

Während die Mitglieder des Klimakabinetts sich stolz auf die Schultern klopfen, von grossen Würfen und Marshallplänen plaudern, zeigen sich Experten, die Oppositionsparteien, die Klimaaktivisten und die Umweltverbände enttäuscht, entsetzt und zornig.

  • Die Grünen werfen der Grossen Koalition völliges Versagen beim Klimaschutz vor.
  • Der international renommierte Klimaforscher Ottmar Edenhofer, selber Berater des Klimakabinetts, nennt das Paket ein „Dokument der politischen Mutlosigkeit“. Der viel zu niedrige Einstiegspreis für den Emissionshandel in den Bereichen Gebäude und Verkehr habe nur noch eine „Alibifunktion“. Die selbstgesteckten Klimaziele würden so jedenfalls nicht erreicht.
  • Der Verbraucherzentrale Bundesverband(vzbv) bewertet das Klimapaket als „grosse Enttäuschung“. Die Unternehmen müssten als Hauptverursacher benannt werden und ihrer Verantwortung nachkommen.
  • Greenpeace-Geschäftsführer Martin Kaiser kritisiert, die Massnahmen blieben meilenweit hinter den Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen zurück, der angepeilte CO2-Preis sei geradezu „lächerlich“. «Die große Koalition kann keinen Klimaschutz“, erklärte er. CDU, CSU und SPD fehle „die moralische Verantwortung und der politische Mut, unsere Zukunft zu sichern“.
  • Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) sieht im Reformpaket lediglich Luftbuchungen und leere Versprechungen“ – ein Wille für ernsthaften Klimaschutz sei mit diesem Plan nicht erkennbar.“ Und:Das ist kein Durchbruch, das ist ein Versagen auf ganzer Linie, was das Klimakabinett da vorgelegt hat“
  • Der Naturschutzbund Nabu findet, die Bundesregierung habe die Dringlichkeit zum Handeln immer noch nicht verstanden. Es bleibe bei Steuergeschenken und neuen Subventionen.
  • Die Umweltschutzorganisation WWF nennt das Klimapaket eine „Mischung aus Verzagen, Vertagen und Versagen“ und forderte Nachbesserungen.
  • Der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel, Gabriel Felbermayr, kritisiert das Paket als „mutlos“. Es enthalte eine grosse Anzahl von Initiativen, die schlecht abgestimmt seien und daher mit hoher Wahrscheinlich ineffektiv und teuer würden.
  •  Während die CDU-Chefin Annegret Kramp-Kartenbauer überzeugt ist, dass mit dem Klimapaket die vorgegebenen Klimaziele «verlässlich erreicht werden können», die Einigung den Weg für ein „markgetriebenes System“ eröffne, twitterten die Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future: „Wenn man jahrelang nichts für den #Klimaschutz tut & dann nach massivem monatelangem Druck aus der Bevölkerung Maßnahmen diskutiert, die mit 1,5 Grad rein gar nichts zu tun haben, ist das kein „Durchbruch“, sondern ein Eklat“. Die Pläne zur CO2-Bepreisung seien „ein Schlag ins Gesicht“ aller, die am Freitag „zu Hunderttausenden“ für einen besseren Klimaschutz in Deutschland auf die Straße gegangen seien.

Lorbeeren wird die deutsche Kanzlerin, die sich einst als Klimakanzlerin feiern liess, mit diesem klimapolitischen Reformpapier kaum ernten, weder in der kommenden Woche in New York, wo man gehofft hat, dass Deutschland mit einem mutigen, wegweisenden Plan die Zögerer-Staaten animiere oder antreibe, noch in Deutschland selber, wo die Grosse Koalition eh schon auf wackeligem Fundament steht, in der SPD und CDU viele Mitglieder das Auseinanderbrechen der Koalition herbeisehnen und sowohl CDU wie SPD keine Führungskräfte haben, die genügend Autorität besitzen, ihren Willen durchzusetzen. Vor allem für die SPD, in deren Reihen viele Klimaaktivisten schon lange mit dem klimapolitischen Kurs ihrer Parteileitung nicht mehr einverstanden sind, wird es nicht ohne zahlreiche Parteiaustritte und heftige Auseinandersetzungen abgehen. Fast könnte man darauf wetten, dass der «Grosse Wurf» das Jahresende kaum überleben wird. (CR)